15.6 Reibungsfreie Strömungen
In diesem Kapitel werden wir uns mit waagrecht strömenden Fluiden (Flüssigkeiten und Gase) beschäftigen. Wir setzen dabei voraus, dass es zu keiner Reibung – weder zwischen den Fluid-Teilchen noch zwischen Fluid-Teilchen noch den Gefäßwänden – kommt. Des Weiteren nehmen wir an, dass diese Fluide -inkompressibel_ sind – ihre Dichte lässt sich durch Druck nicht ändert. Diese Annahme trifft selbst für Gase bei alltäglichen Strömungsgeschwindigkeiten oft zu.
Vielleicht hast du schon einmal die seltsamen Rohre (Bild 15.53) an Flugzeugen oder Hubschraubern gesehen. Einige sind zum Betanken in der Luft vorgesehen. Die meisten Rohre haben aber eine ganz andere Aufgabe, die du weiter unter erfährst…
15.6.1 Stationäre Strömungen
Gibst du Glitter oder andere kleine leichte Teilchen in eine Flüssigkeit, kannst du die Bewegung der Flüssigkeitsteilchen sichtbar machen. Im einfachsten Fall entdeckst du eine stationäre Strömung (engl. steady flow). Wählst du eine beliebige Stelle in einer stationären Strömung, ist die Geschwindigkeit dort zu allen Zeiten gleich groß. Die Strömungsgeschwindigkeit ist also nur vom Ort, nicht aber von der Zeit abhängig.
Eine stationäre Strömung kann durch ein Stromlinienbild dargestellt werden. Die Stromlinien zeigen dabei die Bahnen der Fluid-Teilchen. Alle Stromlinien zusammen ergeben das Strömungsfeld eines Fluids (Bild 15.54).
Der an einem bestimmten Punkt im Strömungsfeld herrschende Druck heißt stationärer Druck \(p_\text{stat}\).
15.6.2 Volumenstrom
Da bei einer stationären Strömung die Geschwindigkeit \(v\) an einem Ort immer gleich ist, strömt in einem Rohr pro Sekunde immer dasselbe Fluidvolumen \(V\) durch einen Rohrquerschnitt \(A\). Diese Größe wird Volumenstrom (engl. volumetric flow rate) genannt.
Du erhältst den Volumenstrom einer Flüssigkeit durch die Formel:
\[\begin{equation} I_V = A\cdot v \tag{15.7} \end{equation}\] |
15.6.3 Herleitung Volumenstrom
Betrachte die Zeichnung 15.55. Die Ebene deutet die Querschnittsfläche zum Zeitpunkt null an. Nach einer Zeit \(\Delta t\) hat sich die Querschnittsfläche \(A\) um den Weg \(\Delta s = v\cdot \Delta t\) weiterbewegt. Das durch den Querschnitt geströmte Volumen entspricht dem Zylindervolumen \(A\cdot \Delta s\).
\[ \begin{aligned} I_V = {} & \frac{\Delta V}{\Delta t} &&\qquad\Bigr\rvert\quad \Delta V = A\cdot \Delta s \\ = {} & \frac{A\cdot \Delta s}{\Delta t} \\ = {} & A\cdot \frac{\Delta s}{\Delta t} &&\qquad\Bigr\rvert\quad v= \frac{\Delta s}{\Delta t} \\ = {} & A\cdot v \\ \end{aligned} \]
15.6.4 Kontinuitätsgleichung
In einer stationären Strömung muss der Volumenstrom an jeder Stelle in einem Rohr gleich groß sein, also:
\[ I_{V_1} = I_{V_2} \]
Wäre das nicht der Fall, würde es zum Beispiel an einer Engstelle zu einem Stau kommen, könnten die nachfolgenden Teilchen nicht nachrücken und wir hätten keine stationäre Strömung mehr. Ganz ähnlich ist die Situation bei einem Verkehrsstrom auf einer mehrspurigen Straße, bei der eine oder mehrere Spuren gesperrt wurden.
Mit der Formel für den Volumenstrom ((15.7)) gilt dann:
Kontinuitätsgleichung: \[\begin{equation} A_1\cdot v_1 = A_2\cdot v_2 \tag{15.8} \end{equation}\] |
Ändert sich bei einer stationären Strömung der Rohrquerschnitt, gilt die sogenannte Kontinuitätsgleichung (engl. continuity equation). Die beiden Zylinder in Bild 15.56 müssen also immer dasselbe Volumen haben.
Wird der Rohrquerschnitt kleiner, muss sich dort die Strömungsgeschwindigkeit erhöhen, um eine stationäre Strömung zu ermöglichen.
Das kannst du auch am Strömungsfeld erkennen: Je dichter die Stromlinien in einem Stromlinienbild liegen, desto größer ist an dieser Stelle die Strömungsgeschwindigkeit.
15.6.5 Hydrodynamisches Paradoxon (Bernoulli-Effekt)
Die Kontinuitätsgleichung besagt, dass die Geschwindigkeit von Fluiden an Engstellen größer ist als an weiten Stellen. Daraus folgt, dass die Fluid-Teilchen am Eingang einer Verengung beschleunigt werden. Damit der Fluidzylinder (Bild 15.57) beschleunigt werden kann, muss die Kraft auf die linke Stirnfläche größer sein als die Kraft auf die rechte Stirnfläche. Und daraus folgt, dass der Druck auf die rechte Stirnfläche und damit an der gesamten Engstelle kleiner sein muss als im weiten Teil.
Da an einer Engstelle weniger Platz ist, vermutet die meisten Menschen, dass sich an diesen Stellen der Druck erhöht. Tatsächlich sinkt an Engstellen der Druck. Zu Ehren von Daniel Bernoulli heißt dieses Phänomen Bernoulli-Effekt (engl. Bernoulli’s principle). Weil dieser Effekt doch recht überraschend ist, wird er auch hydrodynamisches Paradoxon genannt.
Als Radfahrer hast du den Bernoulli-Effekt vielleicht schon erlebt. Wenn dich ein Auto knapp überholt, spürst du den Unterdruck deutlich bei der Vorbeifahrt des Autos. Daher ist in den Straßenverkehrsordnungen von Deutschland und Österreich ist ein Mindestabstand beim Überholen von Radfahrern von \(1{,}5\;\mathrm{m}\) festgelegt.
Dasselbe gilt auch beim Überholen von Schiffen auf Parallelkurs oder wenn ein Schiff zu knapp an einem Brückenpfeiler vorbeifährt. Ist der seitliche Abstand zu klein, kann es durch den Bernoulli-Effekt zu Zusammenstößen kommen.
15.6.6 Venturirohr
Das sogenannte Venturirohr (engl. venturi tube) (Bild 15.58) ist eine einfache Anordnung, um das hydrodynamisches Paradoxon (Bernoulli-Effekt) zu zeigen.
Bei dem Venturirohr sind die Stellen mit unterschiedlichem Querschnitt (1 und 2) mit einem u-förmigen Rohr verbunden. Befindet sich eine Flüssigkeit in dem U-Rohr und strömt ein Gas durch das Venturirohr, wird die Druckdifferenz (3) sichtbar.
Links:
- Video zum Versuch mit einem Venturirohr
15.6.7 Staudruck
Als Staupunkte (engl. stagnation point) werden jene Punkte im Strömungsfeld eines Fluids genannt, an denen die Fluid-Teilchen auf die Geschwindigkeit null abgebremst werden. An diesen Stellen kommt es durch das Abbremsen (negative Beschleunigung) und der damit verbundene Kraft zu einem Druckanstieg, dem sogenannten Staudruck (engl. stagnation pressure).
Eine Möglichkeit, den Staudruck zu messen, ist das Pitot-Rohr (engl. pitot tube) (Bild 15.59). Am Staupunkt (1) herrscht der Gesamtdruck (Umgebungsdruck plus Staudruck). An der Öffnung (2) herrscht nur der Umgebungsdruck. Der in (3) gemessene Druckunterschied muss daher dem Staudruck entsprechen. Der Staudruck ist ein Maß für die Strömungsgeschwindigkeit. Außerdem zeigt das Pitot-Rohr den Staudruck unabhängig vom Umgebungsdruck an. So lässt sich sehr einfach – unabhängig von der Flughöhe – die Reisegeschwindigkeit von Flugzeugen (relativ zur umgebenden Luft, engl. airspeed) zu messen.
Nach demselben Prinzip funktioniert auch das Staudrucklog (Rohrlog) (engl. pitometer log) zur Bestimmung der Fahrgeschwindigkeit von Schiffen relativ zum umgebenden Wasser.