15.5 Flüssigkeitsoberflächen
Ein Wasserläufer dellt die Wasseroberfläche mit seinen Beinen zwar ein, versinkt aber nicht im Wasser (Bild 15.38). Eine unsichtbare „Haut“ auf der Wasseroberfläche scheint ihn zu tragen.
In diesem Kapitel geht es um Flüssigkeitsoberflächen und ihre Wechselwirkung mit anderen Oberflächen.
15.5.1 Kohäsion
Als Kohäsion (engl. cohesion) (von lateinisch cohaerere „zusammenhängen“) werden allgemein alle Bindungskräfte zwischen Atomen (Molekülen) innerhalb eines Stoffes bezeichnet.
Wassermoleküle zum Beispiel bilden Wasserstoffbrückenbindungen mit ihren Nachbarn. Während die Moleküle in der Flüssigkeit von allen Seiten mit gleichartigen Molekülen umgeben sind, befinden sich an der Oberfläche (Grenzfläche Wasser-Luft) nur Wassermoleküle auf einer Seite (Bild 15.39).
Daher bildet Wassertropfen in der Schwerelosigkeit, wenn sie sich im Gleichgewicht befinden, immer perfekte Kugeln (Bild 4.31).
15.5.2 Oberflächenspannung
Einige Körper wie Aluminiummünzen oder Büroklammern können (wenn du sie vorsichtig auf einer Wasseroberfläche platzierst!) schwimmen, obwohl ihre Auftriebskraft dafür nicht groß genug ist. Es ist, als ob diese Gegenstände von einer dünnen gespannten „Haut“ getragen werden (Bild 15.40).
Aufgrund der einseitigen Kohäsion an Oberflächen kommt es bei Flüssigkeiten zur Oberflächenspannung (engl. surface tension). Übst du Druck oder Zug auf eine Flüssigkeitsoberfläche aus, ist sie bestrebt, nicht zu „reißen“.
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15.5.3 Definition und Einheit der Oberflächenspannung
Als Oberflächenspannung \(\gamma\) ist der Ausdruck \(\gamma = F/L\) (Kleinbuchstabe Gamma) definiert. Darin bedeuten die Größen \(F\) die Kraft, die die Oberfläche ausübt und \(L\) die Länge, entlang die Oberfläche die Kraft ausübt. Die Einheit ist somit
\[\begin{equation} \frac{[F]}{[L]} = 1\;\frac{\mathrm{N}}{\mathrm{m}} = 1\;\mathrm{N} \mathrm{m}^{-1} \tag{15.6} \end{equation}\]
also „Newton pro Meter“.
Um die Größe der Oberflächenspannung zu messen, kannst du eine Anordnung wie in Bild 15.41 verwenden.
Sie besteht aus einem geschlossenen Drahtrahmen mit einem beweglichen Bügel der Länge \(L\). Um die Oberflächenspannung zu berechnen, musst du zunächst die Kraft \(F\) messen. Nachdem du auch die Länge des Bügels bestimmt hast, folgt aus der Formel
\[ \gamma = {\frac {F}{2\cdot L}} \]
die Größe der Oberflächenspannung. Vermutlich wirst du dich fragen, woher der Faktor 2 im Nenner kommt. Bedenke, dass es bei unserer Versuchsanordnung mit dem Drahtbügel zwei Oberflächen gibt (auf der Vorder- und auf der Rückseite). Daher ist die Kontaktlänge zwischen Flüssigkeitsoberfläche und Bügel insgesamt \(2\cdot L\).
15.5.4 Oberflächenspannung und Arbeit
Im Bild 15.39 siehst du die Kräfte zwischen den Flüssigkeitsmolekülen. Um ein Molekül innerhalb einer (reibungsfreien) Flüssigkeit zu verschieben, ist keine Arbeit notwendig, da die Kräfte immer von allen Seiten wirken. Durch das Wegfallen der Kräfte an der Flüssigkeitsoberfläche ist für das Verschieben eines Moleküls aus dem Inneren der Flüssigkeit an die Oberfläche sehr wohl Arbeit notwendig. Die Arbeit für die Vergrößerung der Oberfläche wird als Oberflächenenergie gespeichert.
Um den Zusammenhang zwischen Oberflächenspannung und Oberflächenenergie herauszufinden, verwenden wir wieder die Versuchsanordnung mit dem Flüssigkeitsfilm und dem Drahtbügel (Bild 15.42).
Um die Oberfläche um \(\Delta A\) (Summe aus Vorder- und Rückseite!) zu vergrößern ist die Arbeit
\[ \begin{aligned} \Delta W = {} & F\cdot\Delta s \\ = {} & \gamma\cdot L\cdot\Delta s \\ \end{aligned} \]
notwendig, wobei \(\gamma\) die Oberflächenspannung der Flüssigkeit, \(L\) die Länge des Bügels und \(\Delta s\) die Ortsänderung des Bügels.
Aus dem Verhältnis
\[ \begin{aligned} \frac{\Delta W}{\Delta A} = {} & \frac{\Delta W}{L\cdot\Delta s} \\ = {} & \frac{\gamma\cdot L\cdot\Delta s}{L\cdot\Delta s} \\ = {} & \gamma \\ \end{aligned} \]
folgt, dass die Oberflächenspannung \(\gamma\) identisch der Oberflächenenergie pro Quadratmeter ist.
15.5.5 Adhäsion
Gibst du Wasser zwischen zwei Glasplatten und drückst sie zusammen, kannst du sie nur mit Mühe wieder trennen. Wasser wirkt hier wie ein Klebstoff. Offensichtlich wirken auch zwischen Wasser und Glas Molekülkräfte.
Diese Kraft zwischen den Atomen (Molekülen) unterschiedlicher Stoffe wird allgemein als Adhäsion (engl. adhesion) (von lateinisch adhaerere „anhaften“) bezeichnet.
Beim Löten wird ein flüssiges Lot zwischen zwei Metalle gebracht. Beim Abkühlen wird es fest und verbindet die zwei Metalle durch Adhäsion. Da das Lot nur durch Adhäsion verbunden ist, lassen sich die Metalle durch Erwärmen und Verflüssigen des Lots wieder trennen und das Lot entfernen (Bild 15.43).
Die Adhäsion ist auch der Grund, warum Farbe an der Wand hält. In Kombination mit Kohäsion ist Adhäsion auch das Funktionsprinzip von Klebstoffen.
15.5.6 Kontaktwinkel und Benetzungsgrad
Befindet sich ein Flüssigkeitstropfen auf einer Unterlage, entscheidet das Verhältnis von Kohäsionskräften (zwischen den Flüssigkeitsteilchen) und den Adhäsionskräften (zwischen der Unterlage und den Flüssigkeitsteilchen) über die Form des Tropfens. Je größer die Adhäsion, desto mehr breitet sich die Flüssigkeit auf der Unterlage aus – desto besser benetzt die Flüssigkeit die Unterlage (Bild 15.44).
Der Grad der Benetzung kann durch den Kontaktwinkel (engl. contact angle), der sich Winkel zwischen Tangente des Tropfens und Unterlage an der Berührstelle einstellt, angegeben werden (Bild 15.45).
Flüssigkeiten mit einem Kontaktwinkel kleiner als \(90^\circ\) auf einem Trägermaterial werden als benetzende Flüssigkeiten bezeichnet. Ist der Kontaktwinkel größer \(90^\circ\) für ein Trägermaterial, wird sie als nichtbenetzende Flüssigkeiten bezeichnet.
15.5.7 Netzmittel
Gibst du zu der Büroklammer auf der Wasseroberfläche (Bild 15.40) etwas Spülmittel, sinkt sie sofort im Wasser ein.
Spülmittel und Seife sind für Wasser ein sogenanntes Netzmittel. Ein Netzmittel senkt die Oberflächenspannung und erleichtert die Benetzung von Oberflächen. Dadurch kann sich das Wasser zum Beispiel unter den Schmutz schieben und ihn lösen.
15.5.8 Imprägniermittel
In Bild 15.46 siehst du eine Pflanze, auf der Wasser ohne Rückstände abperlt. Auch wenn dieses Phänomen als Lotuseffekt bezeichnet wird, besitzen auch andere Pflanzen solche Oberflächen.
Für Oberflächen wie Fensterglas oder Regenbekleidung wird ebenfalls versucht, eine Benetzung durch Wasser zu verhindern. Entweder sind die Oberflächen von sich aus schon wasserabweisend (hydrophob) oder sie werden es mithilfe eines Imprägniermittels (Bild 15.47).
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15.5.9 Kapillarität
Vielleicht ist dir schon einmal aufgefallen, dass Wasser, wenn es mit Küchenrolle in Verbindung kommt, auch gegen die Schwerkraft nach oben steigt. Diesen Effekt heißt Kapillareffekt. Er tritt immer dann auf, wenn eine Flüssigkeit in Kontakt mit engen Röhren, Spalten oder Hohlräumen in Festkörpern (sogenannten Kapillaren) kommen. Nach dem hydrostatischen Paradoxon ist der Flüssigkeitsstand in kommunizierende Gefäße überall gleich hoch. Ist der Gefäßdurchmesser so klein, dass die Adhäsion zwischen Flüssigkeit und Gefäßwand eine Rolle spielt, ändert sich das. Für benetzende Flüssigkeiten gilt: Je kleiner der Durchmesser, desto höher steht die Flüssigkeit im Rohr (Bild 15.48). Röhrchen mit Durchmessern, bei denen ausgeprägte Kapillarität auftritt, werden Haarröhrchen genannt.
Neben der Saugwirkung von Küchenrolle und Putzschwämmen gibt es viele weitere Anwendungen der Kapillarität. Mithilfe der Kapillarität und dem Wurzeldruck können Bäume Wasser von den Wurzeln in die Krone bis über \(100\;\mathrm{m}\) gegen die Schwerkraft transportieren. Weitere Beispiele für den Kapillareffekt sind der Transport der Tinte in die Spitze einer Füllfeder.
Die Beine von Käfern, Fliegen, Heuschrecken, Laubfrösche und andere Tiere sind in der Lage, an vertikalen Oberflächen zu haften. Diese Tiere sondern dabei eine Benetzungsflüssigkeit von ihren Beinen ab und erzeugen so einen dünnen Flüssigkeitsfilm zwischen sich und der Oberfläche. Die Adhäsionskraft sorgt für die Haftung (Bild 15.49).
Für nichtbenetzende Flüssigkeiten gilt übrigens das Umgekehrte: Je enger das Rohr, desto tiefer ist der Flüssigkeitsstand. In Bild 15.50 siehst du den Unterschied zwischen den Flüssigkeiten Wasser (benetzt Glas) und Quecksilber (benetzt Glas nicht).
15.5.10 Seifenblasen und Minimalflächen
Jede Vergrößerung der Oberfläche einer Flüssigkeit erfordert Arbeit. Unter dem alleinigen Einfluss der Oberflächenspannung ist eine ruhende Flüssigkeit daher genau dann im stabilen Gleichgewicht, wenn ihre Oberfläche am kleinsten ist. In der Schwerelosigkeit haben Wassertropfen und Seifenblasen daher immer Kugelgestalt (Bild 15.51). Auf der Erde ergibt sich eine geringe Abweichung von der Kugelgestalt durch die Schwerkraft.
Die Kugelgestalt ist das einfachste Beispiel einer Minimalfläche. Unter einer Minimalfläche wird die kleinstmögliche Oberfläche einer Flüssigkeit bei gegebenen Randbedingungen verstanden. In Bild 15.52 siehst du Beispiele für Minimalflächen für unterschiedliche Drahtgittermodelle. Die Seifenhaut wird von den Kanten des Körpers begrenzt und besitzt minimale Oberfläche. Für den Würfel gibt es zum Beispiel zwei Lösungen!