5.6 Eindimensionale Stoßvorgänge
Stoßvorgänge wie bei dem Tennis-Aufschlag in Video 5.30 begegnen uns überall im Alltag.
In diesem Kapitel geht es um unterschiedliche Arten von Stößen und ihrer Berechnung.
5.6.1 Was genau ist ein Stoßvorgang?
Ein Stoßvorgang (engl. collision) ist eine relativ heftige und kurzzeitige Wechselwirkung von Körpern. Mit dem Wort „heftige“ ist gemeint, dass die mit dem Stoß verbundenen Kräfte sehr viel größer sind als alle anderen Kräfte, die sonst noch auf die Körper wirken können. Unter „kurzer Zeit“ ist eine Zeitspanne gemeint, die kurz im Verhältnis zu der Zeit der Gesamtbewegung der Körper ist. Wenn ein Flugzeug in der Luft mit einem anderen Flugzeug zusammenstößt, sind die dabei wirkenden Kräfte um ein Vielfaches größer als die Gewichtskräfte oder die Auftriebskräfte, die auf die beiden Maschinen wirken. Die Zeitdauer der Kollision ist sehr kurz im Verhältnis zur gesamten Flugzeit. Selbst die Dauer der Kollision zweier Galaxien ist kurz im Verhältnis zum Alter von Galaxien.
5.6.2 Arten von Stößen
Aus physikalischer Sicht müssen die folgenden drei Arten unterschieden werden:
Elastischer Stoß
Beim elastischen Stoß (engl. elastic collision) kommt es zu keiner dauerhaften Verformung der beteiligten Körper. Fotografierst du die Körper vor und nach dem Stoß kannst du nicht unterscheiden, welche Aufnahme vor und welche nach dem Stoß gemacht wurde. Es gilt die Impulserhaltung und – weil es zu keiner dauerhaften Verformung kommt – auch die mechanische Energieerhaltung. Der Ausgang eines elastischen Stoßes lässt sich direkt berechnen. Beim Tennisschlag verbeult sich die Bespannung des Schlägers und auch der Tennisball wie im Film 5.30 zu sehen. Sobald sich Ball und Schläger wieder trennen, bilden sich beide Verformungen wieder zurück. Bei diesem Stoßvorgang handelt es sich also um einen elastischen Stoß.
Vollkommen unelastischer Stoß
Bei einem vollkommen unelastischen Stoß (engl. totally inelastic collision oder perfectly inelastic collision) verformen sich beide Körper dauerhaft. Außerdem vereinigen sich beide Körper zu einem einzigen Körper nach dem Stoß. Auch hier gilt die Impulserhaltung. Aber weil es zu einer dauerhaften Verformung kommt, gilt bei dieser Art von Stoß die mechanische Energieerhaltung nicht mehr. Der Ausgang eines vollkommen unelastischen Stoßes lässt sich ebenfalls direkt berechnen. Verkeilen sich die Fahrzeuge bei einem Auffahrunfall, handelt es sich um einen vollkommen unelastischen Stoß.
Statt unelastisch wird dieser Stoß auch als inelastischer oder als plastischer Stoß bezeichnet. Alle drei Begriffe meinen dieselbe Art von Stoß.
Unelastischer Stoß
Der unelastischer Stoß (engl. inelastic collision): Ist eine Mischform der beiden anderen Formen. Wie beim vollkommen unelastischen Stoß kommt es auch hier zu einer dauerhaften Verformung der Körper, allerdings vereinigen sich die stoßenden Körper nicht zu einem einzigen Körper und bleiben getrennt (wie bei einem elastischen Stoß). Auch hier gilt die Impulserhaltung. Weil es aber hier zu einer dauerhaften Verformung kommt, gilt bei dieser Art von Stoß die mechanische Energieerhaltung ebenfalls nicht mehr. Da wir nach dem Stoß aber zwei Körper haben, lassen sich die Geschwindigkeiten danach nicht mehr direkt berechnen. Ein Autounfall, bei dem sich die beiden Wagen nicht verkeilen, ist ein Beispiel für einen unelastischen Stoß.
5.6.3 Formeln für den vollkommen unelastische Stoß
Bei vollkommen unelastischen Stößen (engl. totally inelastic collision) sind beide am Stoß beteiligten Massen (\(m_1\) und \(m_2\)) nach dem Stoß zu einer einzigen Masse (\(m_1+m_2\)) vereint – ein Teil der kinetischen Energie wurde dabei dauerhaft für die Verformung der Körper aufgewandt. Entsprechend kann es nach dem Stoß auch nur mehr eine einzige Geschwindigkeit, nämlich die der vereinten Masse, geben.
Auch wenn die mechanische Energie bei einem vollkommen unelastischen Stoß nicht erhalten bleibt, gilt die Impulserhaltung bei jedem Stoßprozess. Die Gleichung liefert:
\[ m_1\cdot v_1 + m_2\cdot v_2 = (m_1+m_2)\cdot v' \]
Diese Geschwindigkeit \(v'\) ist also die einzige Unbekannte und wir können sie mit einer einzigen Gleichung berechnen, wenn wir die Massen und Geschwindigkeiten der Körper vor dem Stoß kennen.
\[\begin{equation} v' = \frac{m_1\cdot v_1 + m_2\cdot v_2}{m_1+m_2} \tag{5.13} \end{equation}\]
In der Animation 5.31 siehst du ein Beispiel für einen vollkommen unelastischen Stoß. Da beide Körper dieselbe Masse haben, halbiert sich die Geschwindigkeit nach dem Stoß.
5.6.4 Anwendungsbeispiel: vollkommen unelastischen Stoß
Ein Körper (\(m_1=60\;\mathrm{g}\)) kommt von links und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von \(1\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\). Ein zweiter Körper (\(m_2=20\;\mathrm{g}\)) kommt von rechts und bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von \(4\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) auf den ersten Körper zu. Bei dem anschließenden Stoß verkeilen sich beide Körper. Berechne die Geschwindigkeit des Körpers nach dem Stoß.
Es handelt sich um ein eindimensionales Problem und wir müssen nicht mit Vektoren rechnen. Der erste Körper bewegt sich von links nach rechts. Seine Geschwindigkeitsrichtung ist positiv, also \(v_1=1\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\). Der zweite Körper bewegt sich von rechts nach links, das entspricht einer negativen Geschwindigkeit, also \(v_2=-4\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\). Einsetzen in die Gleichung liefert
\[ v' = \frac{0{,}06\cdot 1 + 0{,}02\cdot (-4)}{0{,}06+0{,}02} \]
und das Ergebnis
\[ v' = -0{,}25\;\mathrm{m}/\mathrm{s} \]
Nach dem Stoß bewegt sich der Körper mit einer Geschwindigkeit von \(0{,}25\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) nach links.
Bemerkung: Bisher haben wir immer betont, wie wichtig es ist, vor dem Einsetzen in physikalischen Gleichungen in SI-Einheiten umzurechnen. In einigen wenigen physikalischen Formeln kürzen sich die Einheiten (so wie im Beispiel der Gleichung für den unelastischen Stoß die Massen), sodass du zum selben Ergebnis kommst, wenn du die Massen in Gramm einsetzt.
\[ v' = \frac{60\cdot 1 + 20\cdot (-4)}{60+20} = -0{,}25\;\mathrm{m}/\mathrm{s} \]
5.6.5 Formeln für den elastischen Stoß
Stoßen zwei Körper elastisch (engl. elastic collision) zusammen, gibt es nach dem Stoß zwei Geschwindigkeiten und somit zwei Unbekannte. Bei einem elastischen Stoß gilt aber neben dem Impulserhaltungssatz auch der Energieerhaltungssatz. Ein System aus zwei Gleichungen und zwei Unbekannten ist eindeutig lösbar. Nach Lösen des Gleichungssystems erhältst du für die Geschwindigkeiten \(v_1'\) und \(v_2'\) nach dem Stoß die Ausdrücke
\[\begin{equation} v_1' = 2\cdot\frac{m_1\cdot v_1 + m_2\cdot v_2}{m_1 + m_2} - v_1 \tag{5.14} \end{equation}\]
und
\[\begin{equation} v_2' = 2\cdot\frac{m_1\cdot v_1 + m_2\cdot v_2}{m_1 + m_2} - v_2 \tag{5.15} \end{equation}\]
In der Animation 5.32 siehst du den elastischen Stoß einer Masse mit einer doppelt so großen Masse. Beide Körper bewegen sich vor dem Stoß mit derselben Geschwindigkeit.
Ein Spezialfall ist der zentrische elastische Stoß von zwei gleich großen Massen, bei denen die zweite Masse vor dem Stoß ruht (Animation 5.33). In diesem Fall geht der Impuls vollständig auf den zweiten Körper über und der erste Körper bleibt stehen. Genau so einen Fall haben wir bei einem Kugelstoßpendel.
5.6.6 Stoß mit einer Wand
Einen weiteren Spezialfall erhalten wir bei einer ruhenden, sehr großen zweiten Masse (\(m_2\gg m_1\) und \(v_2=0\)). Das entspricht einer elastischen Kollision mit einer Wand. In dieser Situation ist der Nenner beider Formeln sehr groß und der gemeinsame Faktor fast null. Für die Geschwindigkeiten nach dem Stoß erhältst du:
\[\begin{align} v'_1 = {} & 0 - v_1 = -v_1 \\ v'_2 = {} & 0 - 0 = 0 \\ \end{align}\]
Der zweite Körper (Wand) ruht auch nach dem Stoß und der Impuls des ersten Körpers dreht sich vollständig um, der erste Körper „prallt zurück“. Beachte die Impulsänderung des ersten Körpers ist daher:
\[\begin{align} \Delta p = {} & p_2 - p_1 \notag \\ = {} & (-m_1\cdot v_1) - (m_1\cdot v_1) \notag \\ \end{align}\]
Also:
\[\begin{equation} \Delta p = -2\cdot m_1\cdot v_1 \tag{5.16} \end{equation}\]
Er ändert nicht nur die Richtung, sondern sein Impuls verdoppelt sich bei dem Stoß!
5.6.7 Anwendungsbeispiel: elastischen Stoß
Auf einem Air-Hockey-Tisch trifft ein Puck (\(m_1=30\;\mathrm{g}\)) mit einer Geschwindigkeit von \(6\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) zentrisch auf einen ruhenden Puck mit doppelter Masse. Berechne die Geschwindigkeiten der Körper nach dem Stoß.
Durch den zentrischen Stoß handelt es sich um ein eindimensionales Problem und wir müssen nicht mit Vektoren rechnen. Die Größen vor dem Stoß lauten \(m_1=0{,}03\;\mathrm{kg}\), \(v_1=6\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\), \(m_1=0{,}06\;\mathrm{kg}\) und \(v_1=0\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\),
Einsetzen in die Gleichungen für den elastischen Stoß liefert für den gemeinsamen Term:
\[ 2\cdot \frac{m_1\cdot v_1 + m_2\cdot v_2}{m_1 + m_2} = 2\cdot \frac{0{,}03\cdot 6 + 60\cdot 0}{0{,}03 + 0{,}06} = 4 \]
Für die Geschwindigkeiten nach dem Stoß ergeben sich
\[ v_1' = 4 - 6 = -2 \]
und
\[ v_2' = 4 - 0 = 4 \]
Beim Stoß prallt der erste Körper zurück und bewegt sich nach dem Stoß verlangsamt mit der Geschwindigkeit \(2\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) in die entgegengesetzte Richtung, während der zweite Körper sich mit einer Geschwindigkeit von \(4\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) nach vorne bewegt.
Zum Schluss testen wir noch, ob unsere Lösungen auch wirklich der Impuls- und Energieerhaltung genügen. Die Impulserhaltung liefert:
\[ \begin{array}{rcl} p_1 + p_2 & = & p_1' + p_2' \\ m_1\cdot v_1 + m_2\cdot v_2 & = & m_1\cdot v_1' + m_2\cdot v_2' \\ 0{,}03\cdot 6 + 0{,}06\cdot 0 & = & 0{,}03\cdot (-2) + 0{,}06\cdot 4 \\ 0{,}54 & = & 0{,}54 \\ \end{array} \]
Und die Energieerhaltung liefert:
\[ \begin{array}{rcl} E_{1,kin} + E_{2,kin} & = & E_{1,kin}' + E_{2,kin}' \\ \frac{\displaystyle m_1\cdot v_1^2}{\displaystyle 2} + \frac{\displaystyle m_2\cdot v_2^2}{\displaystyle 2} & = & \frac{\displaystyle m_1\cdot v_1'^2}{\displaystyle 2} + \frac{\displaystyle m_2\cdot v_2'^2}{\displaystyle 2} \\ 0{,}03\cdot 6^2 + 0{,}06\cdot 0^2 & = & 0{,}03\cdot (-2)^2 + 0{,}06\cdot 4^2 \\ 0{,}18 & = & 0{,}18 \\ \end{array} \]
Beide Erhaltungssätze liefern vor und nach dem Stoß denselben Wert. Somit gilt für die berechneten Geschwindigkeiten nach dem Stoß die Impuls- und Energieerhaltung.