3.8 Relativbewegung
Die Sonde Deep Impact (Bild 3.50) begleitete den Kometen Tempel 1 insgesamt fünfeinhalb Jahre lang. Wenn sie einen Geschwindigkeitsmesser an Bord hat: Die Geschwindigkeit zu welchem Objekt wird angezeigt? Dem Kometen, der Sonne, der Erde?
3.8.1 Relative und absolute Aussagen
Wir sitzen einander gegenüber an einem Tisch. Vor uns stehen ein Glas und daneben eine Flasche (Bild 3.51). Ich behaupte, das Glas steht links neben der Flasche. Du behauptest, das Glas steht rechts neben der Flasche. Wer von uns beiden hat recht?
Natürlich haben wir beide recht – jeder aus seinem Blickwinkel. Es handelt sich nämlich um eine relative Aussage, die nur dann bestätigt oder widerlegt werden kann, wenn der Standpunkt – das Bezugssystem der Messung – zum Zeitpunkt der Aussage ebenfalls bekannt ist.
Es gibt aber auch absolute Aussagen, die alle Personen unabhängig von ihrem Standpunkt gleich beurteilen – zum Beispiel die Farbe des Getränks. Solche relativen und absoluten Aussagen gibt es auch in der Physik – dort ist es aber nicht immer ganz so offensichtlich.
3.8.2 Geschwindigkeit relativ wozu?
Ein Auto fährt mit \(70\;\mathrm{km}/\mathrm{h}\). Wenn du diese Aussage hörst, ist dir ziemlich klar, was damit gemeint ist, nämlich: Das Auto fährt \(70\;\mathrm{km}/\mathrm{h}\) relativ zur Erde. Aber die Erde bewegt sich selbst mit einer Bahngeschwindigkeit von rund \(100{.}000\;\mathrm{km}/\mathrm{h}\) (die mittlere Orbitalgeschwindigkeit der Erde um die Sonne). Entsprechend größer wäre die Geschwindigkeit des Autos, wenn du sie relativ zu Sonne angegeben würdest.
In dem Beispiel oben ist die Sache ziemlich eindeutig. Aber es gibt durchaus Fälle, in denen nicht so klar ist, relativ wozu eine Geschwindigkeit gemessen wird.
Wird die Bewegung eines Flugzeugs relativ zum Erdboden oder relativ zur umgebenden Luft gemessen?
Wird die Bewegung eines Schiffes relativ zum Wasser oder relativ zum Ufer gemessen?
Wird die Bewegung einer Raumsonde relativ zur Erde oder relativ zur Sonne gemessen?
3.8.3 Geschwindigkeit in unterschiedlichen Bezugssystemen
Betrachten wir ein konkretes Beispiel. Hier gibt es zwei Personen in zwei unterschiedlichen Bezugssystemen. Im Bezugssystem \(S\) ruht der Fußgänger, der am Straßenrand steht. Im Bezugssystem \(S'\) ruht der Fahrradfahrer, der sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von \(5\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) relativ zur Straße nach rechts bewegt. Beide beobachten das Auto in der Mitte (Bild 3.52).
Aus dem Bezugssystem \(S\) (Fußgänger) bewegt sich das Auto mit einer Geschwindigkeit von \(15\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) und der Radfahrer \(5\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\). Beide bewegen sich nach rechts.
Aus dem Bezugssystem \(S'\) (Radfahrer) bewegt sich das Auto mit einer Geschwindigkeit von \(10\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) nach rechts und der Fußgänger mit \(5\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) nach links.
Obwohl beide dasselbe Auto beobachten, messen beide Personen unterschiedliche Geschwindigkeiten des Autos in ihren Bezugssystemen. Geschwindigkeit ist also eine relative Größe, die vom Bezugssystem abhängt.
3.8.4 Beschleunigung in unterschiedlichen Bezugssystemen
Wir erweitern das Beispiel aus dem letzten Abschnitt, indem das Auto beschleunigt.
Aus der Sicht des Fußgängers (\(S\)) hat das Auto zu Beginn eine Geschwindigkeit von \(15\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) und nach 10 Sekunden eine Geschwindigkeit von \(35\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\). Daraus ergibt sich aus der Sicht des Fußgängers eine Beschleunigung von \(2\;\mathrm{m}/\mathrm{s^2}\).
Aus der Sicht des Radfahrers (\(S'\)) hat das Auto zu Beginn eine Geschwindigkeit von \(10\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\) und nach 10 Sekunden eine Geschwindigkeit von \(30\;\mathrm{m}/\mathrm{s}\). Daraus ergibt sich aus der Sicht des Radfahrers ebenfalls eine Beschleunigung von \(2\;\mathrm{m}/\mathrm{s^2}\).
Anders als die Geschwindigkeit ist die Beschleunigung unabhängig vom Bezugssystem. Größen, die in jedem Bezugssystem gleich sind, werden in der Physik als invariant bezeichnet.
3.8.5 Inertialsysteme
Jetzt müssen wir etwas vorsichtig sein: Die Aussage „Beschleunigung ist unabhängig vom Bezugssystem“, gilt nämlich nur dann, wenn sich das Bezugssystem selbst nicht beschleunigt bewegt! Das kannst du dir ganz einfach mit einer Fallbewegung überlegen: Verlassen zwei Fallschirmspringer das Flugzeug und filmt der eine den anderen, ist auf dem Video keine Beschleunigung zu sehen (im Idealfall nicht einmal eine Relativbewegung), während auf dem Video der Kamerafrau an Bord des Flugzeugs sehr wohl eine Beschleunigung der Springer zu sehen ist.
Nicht-beschleunigte Bezugssystem spielen in der Physik eine sehr wichtige Rolle, weil in ihnen die Beschreibung der Natur besonders einfach ist.
Bezugssysteme die ruhen oder sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegen, werden Inertialsysteme (engl. inertial frame of reference) genannt. |
3.8.6 Galileisches Relativitätsprinzip
Wie du im Laufe der nächsten Kapitel sehen wirst, kommt in allen Naturgesetzen der Mechanik immer nur invariante Größen wie zum Beispiel die Beschleunigung vor, aber keine Größen wie zum Beispiel die Geschwindigkeit, die vom gewählten Inertialsystem abhängig ist. Daher ist es egal, welches Inertialsystem du zur Beschreibung wählst – in allen Inertialsystemen haben die Naturgesetze dieselbe Form. Diese Erkenntnis der klassischen Physik wird im Galileischen Relativitätsprinzip (engl. principle of galilean relativity) zusammengefasst:
Alle Inertialsysteme sind gleichberechtigt. In ihnen laufen alle Vorgänge nach denselben physikalischen Gesetzen ab. |
In beschleunigten Bezugssystemen (nicht Inertialsystemen) gilt diese Aussage nicht mehr. Im Kapitel Kräfte in beschleunigten Bezugssystemen wirst du mehr über Beschreibung von physikalischen Vorgängen in beschleunigten Bezugssystemen erfahren.
3.8.7 Galilei-Transformation
Die Galilei-Transformation (engl. Galilean transformation) ist eine Vorschrift (mathematische Transformation), mit deren Hilfe du die Messergebnisse von einem Inertialsystem in ein anderes Inertialsystem umrechnen kannst.
In Bild 3.53 siehst du eine Person im roten Inertialsystem sitzen (Ruhesystem \(S\)). Die Person misst zum Zeitpunkt \(t\) den Punkt \(P\) und erhält die Koordinaten \(x, y, z\).
Ein zweites Inertialsystem \(S'\) (blau) bewegt sich mit der konstanten Geschwindigkeit \(v\) – aus der Sicht der Person im Inertialsystem \(S\) (rot) – nach rechts (positive x-Achsen-Richtung). Die Uhren in beiden Inertialsystemen sind synchronisiert und zum Zeitpunkt \(t = t' = 0\) überlappen sich beide Systeme.
Die Person in \(S\) kennt die Verschiebung von \(S'\) zum eigenen Inertialsystem zu jedem Zeitpunkt \(t\). Sie ist \(s=v\cdot t\) (siehe gleichförmige Bewegung). Daher kann sie die Koordinaten \(x', y', z'\) berechnen, die eine Person in \(S'\) erhält, wenn sie denselben Punkt \(P\) zum selben Zeitpunkt \(t'=t\) im blauen System misst. Von dem Messwert \(x\) muss nur die Verschiebung der beiden Systeme abgezogen werden – alle anderen Messwerte bleiben unverändert.
\[\begin{equation} \begin{aligned} x' = {} & x-v\cdot t &\qquad x & = x'+v\cdot t'\\ z' = {} & z &\qquad z & = z'\\ y' = {} & y &\qquad y & = y'\\ t' = {} & t &\qquad t & = t'\\ \end{aligned} \tag{3.15} \end{equation}\]
Und wenn umgekehrt die Messwerte im blauen Inertialsystems vorliegen und du möchtest die Messwerte für das rote Inertialsystem berechnen? In diesem Fall versetzen wir die Person in das blaue Bezugssystem und tauschen die „gestrichenen“ Größen mit den „ungestrichenen“ Größen. Was hat sich geändert? Aus der Sicht der Person im blauen System bewegt sich das rote System mit demselben Geschwindigkeitsbetrag nach links (negative x-Achsen-Richtung). Du kannst also für die Berechnung dieselben Gleichungen verwenden, wenn du für die Geschwindigkeit statt \(v\) den Wert \(-v\) einsetzt.