4.10 Kräfte in beschleunigten Bezugssystemen

Bremst ein Auto scharf, spürst du als Mitfahrer deutlich zwei Kräfte: Die eine schiebt deinen Körper nach vorne und die andere – natürlich nur wenn du angeschnallt bist – hält dich zurück (Bild 4.70).

Test eines Sicherheitsgurtes

Bild 4.70: Test eines Sicherheitsgurtes

Wenn ein Auto bremst, ist aber eigentlich nur eine einzige Kraft im Spiel, die Bremskraft. Wie lassen sich deine Beobachtung und die physikalische Beschreibung des Bremsvorgangs in Einklang bringen?

In diesem Kapitel werden wir uns den Unterschied zwischen beschleunigten und unbeschleunigten Bezugssystemen ansehen und du wirst den Begriff der Scheinkraft kennenlernen.

4.10.1 Unbeschleunigte Bezugssysteme

Wir haben das bisher nicht erwähnt, aber: Die Newtonschen Gesetze und insbesondere der Trägheitssatz gelten nur in sogenannten Inertialsystemen (engl. inertial frame of reference). Das sind Bezugssysteme, die ruhen oder sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Alle anderen Bezugssysteme werden beschleunigte Bezugssysteme genannt.

Wie kannst du feststellen, ob du dich in einem Inertialsystem befindest? Die einfachste Möglichkeit besteht darin, zu testen, ob der Trägheitssatz gilt. Dazu nimmst du einen Gegenstand und lässt ihn los. Kannst du keine Beschleunigung des Körpers relativ zu dir messen, befindest du dich in einem Inertialsystem.

Führst du diesen Test zu Hause aus, wirst du feststellen, dass der Gegenstand sofort zu Boden fällt. Die Erde kann also kein Inertialsystem sein. Legst du eine Kugel ruhend auf einen (ebenen) Tisch, bleibt die Kugel in Ruhe. In der Tischebene (normal zur Richtung der Gewichtskraft) kann die Erde in guter Näherung als Inertialsystem gelten.

Wenn du bedenkst, dass sich die Erde auf einer Kreisbahn um die Sonne bewegt (Jahreszyklus) und sich auch um ihre eigene Achse dreht (Tag-Nacht-Zyklus), kann bei genauer Messung nicht einmal die Tischebene ein Inertialsystem sein.

Ein 100-prozentiges Inertialsystem ist in der Natur eigentlich nicht zu finden und ist eine Idealisierung. Das Bezugssystem, das einem Inertialsystem noch am nächsten kommt, ist – kurioserweise – ein frei fallendes Labor

4.10.2 Beschleunigte Bezugssysteme

Für Inertialsysteme gilt die Aussage: „Jede gemessene Beschleunigung eines Körpers ist die Wirkung einer Kraft“ (Dynamisches Grundgesetz).

Für beschleunigte Bezugssysteme (also Nicht-Inertialsysteme) gilt diese Aussage nicht mehr! Hier zeigt ein Körper selbst dann eine Beschleunigung, wenn keine Kraft wirkt! Sie entsteht einfach nur durch die Wahl des Bezugssystems.

Um auch in beschleunigten Bezugssystemen mit den Newtonschen Gesetzen arbeiten zu können, gibt es einen Trick: Es werden zusätzliche Trägheitskräfte oder Scheinkräfte (engl. inertia forces oder fictitious forces) eingeführt, die die Effekte des beschleunigten Bezugssystems ausgleichen. Sobald du dasselbe Experiment aber aus der Sicht eines Inertialsystems betrachtest, verschwindet die Trägheitskraft und es bleiben nur noch die sogenannten äußeren Kräfte (engl. external forces) – also alle „nicht Scheinkräfte“ – übrig.

Lass dich durch den Begriff „Schein“kraft nicht verwirren: Die Wirkung einer Scheinkraft ist für dich in deinem beschleunigten Bezugssystem genauso real wie die jeder äußeren Kraft!

In den folgenden Abschnitten zeigen wir dir häufige Situationen, in denen Trägheitskräfte auftreten. Im Buchteil über Rotation findest du dann die Corioliskraft und weitere Beispiele zu Scheinkräften.

4.10.3 Trägheitskraft bei einem Bremsmanöver

In Bild 4.71 siehst du ein Bremsmanöver. In (a) die Situation aus der Sicht des Inertialsystems „Straße“ (\(S\)) dargestellt. Der Wagen verlangsamt seine Fahrt und kommt schließlich zum Stillstand. Die Ursache dieser Wirkung ist die Reibungskraft \(F_1\) zwischen Straße und den Reifen des Wagens.

Bremsmanöver aus der Sicht eines Inertialsystems (a) und eines beschleunigten Bezugssystems (b)

Bild 4.71: Bremsmanöver aus der Sicht eines Inertialsystems (a) und eines beschleunigten Bezugssystems (b)

Wie könnten die Insassen des Wagens dasselbe Bremsmanöver beschreiben (4.71, b)? Sie spüren, dass sie in ihre Gurte gedrückt werden. Sind die Gurte gespannt, bewegen sie sich relativ zu ihrem Bezugssystem „Wagen“ (\(S^\prime\)) nicht mehr. Ruht ein Körper in einem Bezugssystem, muss nach dem Trägheitssatz die Gesamtkraft auf den Körper null sein. Im beschleunigten Bezugssystem „Auto“ kann der Bewegungszustand der Insassen durch zwei entgegengesetzte gleich große Kräfte erklärt werden. Einerseits durch eine nach vorne gerichtete Trägheitskraft und eine nach hinten gerichtete Haltekraft der Gurte.

Durch Einführen der Trägheitskraft im beschleunigten Bezugssystem können dort ebenso alle Beschleunigungen auf Kräfte zurückgeführt werden. Beim Einzeichnen von Kräften ist es daher immer wichtig anzugeben, welches Bezugssystem gewählt wurde.

4.10.4 Trägheitskraft bei einer Kurvenfahrt

Damit sich ein Körper entlang einer Kreisbahn bewegt, ist eine Zentripetalkraft nötig. In Bild 4.72 siehst du ein Auto, das um eine kreisförmige Kurve fährt. Die dafür nötige Zentripetalkraft stammt von der Reibungskraft zwischen den Rädern und der Straße. Aus der Sicht des Inertialsystems „Straße“ (\(S\)) wirkt eine einzige zum Kurvenmittelpunkt gerichtete Kraft \(F_1\), die für die Zentripetalbeschleunigung des Autos verantwortlich ist.

Kurvenfahrt aus der Sicht eines Inertialsystems (a) und eines beschleunigten Bezugssystems (b)

Bild 4.72: Kurvenfahrt aus der Sicht eines Inertialsystems (a) und eines beschleunigten Bezugssystems (b)

Betrachten wir die Situation aus dem beschleunigten Bezugssystem „Auto“ (\(S^\prime\)). Während der Kurvenfahrt ändert sich deine Position relativ zum Auto nicht. Ruht ein Körper in einem Bezugssystem muss, die Summe aller Kräfte nach dem Trägheitssatz null sein. Du spürst eine Trägheitskraft \(F_2\), die dich nach außen zieht und gleichzeitig eine Reibungskraft \(F_1\) zwischen dem Autositz und deinem Körper, die dich zurückhält und nach innen zieht. Beide Kräfte sind gleich groß und entgegengesetzt.

Die Trägheitskraft, die bei einer Kreisbahn auftritt, wird Zentrifugalkraft (engl. centrifugal force) genannt, im Gegensatz zur Zentripetalkraft ist sie immer radial nach außen gerichtet!

4.10.5 Trägheitskraft beim freien Fall

Das letzte Beispiel ist gleichzeitig das spannendste. Nehmen wir an, du befindest dich in einer frei fallenden Aufzugskabine (ohne Luftwiderstand, also zum Beispiel auf dem Mond). Aus der Sicht des Inertialsystems (\(S\)) „Boden“ lässt sich deine gleichmäßig beschleunigte Bewegung relativ zum Boden als Wirkung deiner Gewichtskraft \(F_1\) beschreiben.

Freier Fall aus der Sicht eines Inertialsystems (a) und eines beschleunigten Bezugssystems (b)

Bild 4.73: Freier Fall aus der Sicht eines Inertialsystems (a) und eines beschleunigten Bezugssystems (b)

Wechseln wir in das beschleunigte Bezugssystem „Aufzugskabine“ (\(S^\prime\)), die sich ebenfalls im freien Fall befindet. Hier bewegst du dich relativ zu \(S^\prime\) nicht. Dies lässt sich durch die Wirkung einer zusätzlichen Trägheitskraft \(F_2\) beschreiben, die gleich groß, aber entgegengesetzt deiner Gewichtskraft \(F_1\) ist. Die Trägheitskraft ist gerade so groß, dass sie die Wirkung der Gewichtskraft aufhebt.

Was ist so spannend an diesem Beispiel? Sowohl die Trägheitskraft als auch die Gewichtskraft haben denselben Angriffspunkt – nämlich den Massenmittelpunkt. Und das trifft nicht nur auf dich zu, sondern auch auf alle anderen Körper, die sich mit dir in der Aufzugskabine befinden. Auch dein Gleichgewichtsorgan kann keine Kräfte feststellen. Innerhalb der Aufzugskabine verhält sich alles so wie in einem Inertialsystem! Dieser (vermeintliche) Zufall führte Albert Einstein schließlich zu seiner allgemeinen Relativitätstheorie.