7.1 Drehwinkel und Radiant
Im Bild 7.2 siehst du eine Scheibe, die sich um eine feste Drehachse bewegen lässt.
In diesem Kapitel erfährst du etwas über allgemeine Bewegungen, über Rotation und wie die Orientierung eines starren Körpers in der Physik beschrieben wird.
7.1.1 Translation und Rotation
In Bild 7.3 siehst du die Bewegung eines Esslöffels, wenn er in die Luft geworfen wird.
Die Bewegung setzt sich aus zwei unabhängigen Bewegungen zusammen.
Zunächst kann die Bewegung des Esslöffels durch eine Translation (engl. translational displacement) des Massenmittelpunkts beschrieben werden. Als Translation wird in der Physik jede Bewegung bezeichnet, die in der Mathematik als Verschiebung beschrieben werden kann und die du im Buchteil über Kinematik kennengelernt hast. Die Bahnkurve des Massenmittelpunktes ist hier eine Parabel, wie du sie im Kapitel schräger Wurf kennengelernt hast.
Unabhängig davon beschreibt der Esslöffel auch eine Rotation (engl. rotation) um den Massenmittelpunkt. Als Rotation wird in der Physik jede Bewegung bezeichnet, die in der Mathematik durch eine Drehung beschrieben werden kann. Da eine punktförmige Masse keine Orientierung hat, werden wir in diesem Teil des Buches das Modell des starren Körpers verwenden.
Es zeigt sich:
Jede Bewegung eines starren Körpers lässt sich als eine Kombination aus Translation und Rotation beschreiben. |
7.1.2 Drehwinkel
Im Bild 7.4 siehst du eine Scheibe (Audio CD), die um ihren Mittelpunkt gedreht wurde.
Im Gegensatz zur geradlinigen Translation legen bei einer Drehbewegung unterschiedliche Punkte (\(P_1\), \(P_2\), \(P_3\)) des Körpers unterschiedliche Wegstrecken (hier: Kreisbögen \(b_1\), \(b_2\), \(b_3\)) zurück. Der Grund sind ihre unterschiedlichen Abstände \(r_1\), \(r_2\), \(r_3\) von der Drehachse (Drehzentrum).
Unser Ziel ist es aber eine Größe zu finden, mit der die Drehung des gesamten Körpers (also aller Massenpunkte des Körpers) beschrieben werden kann. Der zurückgelegte Weg eines Massenpunktes ist offensichtlich dafür ungeeignet. In der Abbildung kannst du erkennen, dass der Drehwinkel (engl. angular displacement) für alle drei Massenpunkte gleich ist und dass das Ausmaß der Drehung für alle Punkte des Körpers beschreibt. Als Formelsymbol für den Drehwinkel wird üblicherweise \(\varphi\) (griechischer Kleinbuchstabe Phi, gesprochen „Fi“) oder \(\theta\) (griechischer Kleinbuchstaben Theta, gesprochen „Teta“) verwendet.
7.1.3 Einheit des Drehwinkels
Du bist aus der Mathematik gewohnt, dass ein voller Kreis aus \(360^\circ\) besteht und bei dem Wort „Winkel“ denkst du vermutlich automatisch an das Gradmaß. In naturwissenschaftlichen Formeln wird aber fast ausschließlich das Winkelmaß Radiant (Bogenmaß) (engl. radian) verwendet.
Im Bild 7.4 kannst du erkennen, dass bei einer Drehung um den Winkel \(\varphi\) das Verhältnis
\[ \frac{\text{zurückgelegter Kreisbogen}}{\text{Radiusvektor}} \]
für alle Punkte des Körpers gleich groß ist. Der Grund dafür ist, dass die Bogenlänge eines gegebenen Winkels proportional dem Radius \(r\) ist. Im Bogenmaß wird dieses Verhältnis zur Beschreibung eines Winkels verwendet.
\[\begin{equation} \varphi = \frac{b}{r} \tag{7.1} \end{equation}\] |
Aus welchen Basis-Einheiten setzt sich das Winkelmaß Radiant zusammen?
\[ \frac{[b]}{[r]} = \frac{\textrm{m}}{\textrm{m}} = 1 = 1\;\mathrm{rad} \]
Das Bogenmaß ist das Verhältnis zweier Längen. Somit ist es eine dimensionslose Größe (2.3.13, also eine Zahl). Damit es bei der Angabe von Winkeln zu keiner Verwechslung mit dem Gradmaß kommt, wird hinter die Zahl sicherheitshalber die Bezeichnung \(\mathrm{rad}\) geschrieben.
In allen Formeln, in denen ein Drehwinkel vorkommt, musst du den Winkel im Bogenmaß einsetzen, damit du das richtige Ergebnis erhältst! Verwendest du umgekehrt diese Formeln zur Berechnung eines Drehwinkels ist das Ergebnis immer im Bogenmaß! |
Einen Winkel im Bogenmaß anzugeben, mag dir unnötig kompliziert erscheinen. Für einen Punkt am Einheitskreis (\(r=1\)) sind der Drehwinkel und der zurückgelegte Weg (Kreisbogenlänge) zahlenmäßig gleich groß. Gerade weil im Bogenmaß die Bogenlänge steckt, also jene Weglänge, die ein Punkt auf einer rotierenden Scheibe zurücklegt, fällt etwa die Definition der Winkelgeschwindigkeit in „Radiant pro Sekunde“ so einfach aus. Die Verwendung des Bogenmaßes als Winkel-Maß hilft, Formeln kurz und einfach zu halten. Würde das Gradmaß verwendet werden, stünde in den meisten Formeln zur Rotation ein zusätzlicher Faktor \(180^\circ/\pi\).
7.1.4 Gradmaß und Bogenmaß
In diesem Abschnitt sehen wir uns das Bogenmaß und den Zusammenhang mit dem Gradmaß genauer an.
Bei einem Drehwinkel von \(1\;\mathrm{rad}\) hat ein Punkt am Umfang exakt eine Kreisbogenlänge von der Länge eines Radius zurückgelegt (daher leitet sich auch der Name „Radiant“ ab). In Bild 7.5 siehst du, wie groß ein Winkel von \(1\;\mathrm{rad}\) ist. Eine volle Umdrehung entspricht dem Bogenmaß \(2\pi\;\mathrm{rad}\). Entsprechend hat eine halbe Drehung \(\pi\;\mathrm{rad}\) und eine Vierteldrehung \(\pi/2\;\mathrm{rad}\). Da es sich bei Winkelwerten im Bogenmaß oft um irrationale Zahlen handelt, wird oft nicht die Zahl ausgeschrieben, sondern als Vielfaches der Kreiszahl Pi angegeben.
Da ein Halbkreis im Bogenmaß \(\pi\;\mathrm{rad}\) und im Gradmaß \(180^\circ\) entspricht, gilt:
\[ \begin{aligned} \pi\;\mathrm{rad} = & 180^\circ \qquad\Bigr\rvert\cdot \frac{1}{\pi} \\ 1\;\mathrm{rad} = & \frac{180^\circ}{\pi} \approx 57{,}3^\circ \\ \end{aligned} \]
Um einen Winkel im Gradmaß \(\varphi^\circ\) in das Bogenmaß \(\varphi^\text{rad}\) umzurechnen, verwendest du die Formel:
\[\begin{equation} \varphi^\text{rad} = \frac{\pi}{180^\circ} \cdot \varphi^\circ \tag{7.2} \end{equation}\]
Umgekehrt kannst du dir mit der folgenden Formel einen Winkel im Bogenmaß \(\varphi^\text{rad}\) in das Gradmaß \(\varphi^\circ\) umrechnen:
\[\begin{equation} \varphi^\circ = \frac{180^\circ}{\pi} \cdot \varphi^\text{rad} \tag{7.3} \end{equation}\]
\(\pi/180^\circ\) oder \(180^\circ/\pi\)? Das lässt sich leicht verwechseln. Denke immer daran, dass Radiant eine dimensionslose Größe ist. Soll das Ergebnis ein Winkel in Radiant sein, muss der Faktor \(180^\circ\) im Nenner stehen, damit sich die Einheit Grad kürzt und du eine dimensionslose Größe erhältst. Soll das Ergebnis ein Winkel im Gradmaß sein, muss der Faktor \(180^\circ\) im Zähler stehen.