4.3 Anwenden von Kräften

Wir alle erleben die Schwerkraft jeden Tag. Sollen wir die Kräfte in der in Bild 4.13 dargestellten Situation einzeichnen, ist das Kräftediagramm links naheliegend.

Fehlt da nicht eine Kraft?

Bild 4.13: Fehlt da nicht eine Kraft?

Du hast in einem früheren Kapitel schon die Normalkraft kennengelernt und außerdem ist die Person in dieser Situation unbeschleunigt, also muss die Nettokraft nach dem dynamischen Grundgesetznull sein. Das korrekte Kräftediagramm ist auf der rechten Seite zu sehen!

Im letzten Kapitel hast du erfahren, was in der Physik unter einer Kraft verstanden wird. In der Natur hast du es immer mit mehreren Kräften und mehreren Körpern gleichzeitig zu tun. Dieses Kapitel soll dir helfen die Anwendung des Kraftbegriffs in der Physik besser zu verstehen.

4.3.1 Zusammenfassen von Kräften

Auch wenn mehrere Kräfte an einem Angriffspunkt ansetzen, kommt es zu einer Bewegungsänderung in nur eine Richtung. Sie ist die Wirkung der Gesamt- oder Nettokraft \(\vec{F}_\mathrm{ges}\) (engl. net force).

Die Gesamtkraft ist die Vektorsumme aller an einem Angriffspunkt angreifenden Kräfte.

\[\begin{equation} \vec{F}_\mathrm{ges}=\vec{F}_1 + \vec{F}_2 +\vec{F}_3 +\ldots \tag{4.3} \end{equation}\]

Beispiel für die graphische Bestimmung der Gesamtkraft (Nettokraft)

Bild 4.14: Beispiel für die graphische Bestimmung der Gesamtkraft (Nettokraft)

Grafisch ermittelst du die Gesamtkraft, indem du alle Kraftpfeile – Schaft an Spitze – aneinanderhängst. Die Gesamtkraft ist dann der Vektor, beginnend beim Schaft des ersten Vektors bis zur Spitze des letzten Vektors (Bild 4.14). Die Reihenfolge, in der du die einzelnen Kraftpfeile aneinander hängst, ist dabei egal – du bekommst immer denselben Gesamtkraftpfeil.

4.3.2 Kräfteparallelogramm

Treten nur zwei Kräfte auf, bildet ihre Vektorsumme ein Parallelogramm. Die Gesamtkraft ist dann die vom Angriffspunkt ausgehende Diagonale im Kräfteparallelogramm (engl. parallelogram of force) (Bild 4.15).

Beispiel für die graphische Bestimmung der Gesamtkraft (Nettokraft) bei zwei Kräften (Kräfteparallelogramm)

Bild 4.15: Beispiel für die graphische Bestimmung der Gesamtkraft (Nettokraft) bei zwei Kräften (Kräfteparallelogramm)

4.3.3 Aufteilung von Kräften

In Bild 4.16 (links) siehst du eine an einem Stahlseil aufgehängte Verkehrsampel. In diesem Fall würde die Ampel bei einem Sturm stark hin- und herpendeln.

Aufteilen von Kräften bei einer Verkehrsampel

Bild 4.16: Aufteilen von Kräften bei einer Verkehrsampel

Um das zu verhindern, wird in der Praxis die Seilkraft auf mehrere schräg abgespannte Seile aufgeteilt (Bild 4.16, rechts). Teilst du Kräfte auf, muss ihre Summe immer die ursprüngliche Kraft ergeben. Die Aufteilung von Kräften ist gewissermaßen die Umkehrung des Zusammenfassens von Kräften.

Da in unserem Beispiel die Kraft nur auf zwei Teilkräfte aufgeteilt wird und die Zugrichtungen der Seile vorgegeben sind, lassen sich die neuen Teilkräfte grafisch durch Ergänzen zu einem Kräfteparallelogramm ermitteln.

4.3.4 Wirklinie

Die Wirklinie einer Kraft (engl. line of action) ist die Gerade, die durch den Angriffspunkt der Kraft und ihrem Kraftvektor definiert ist.

Wird ein Kraftvektor entlang der Wirklinie verschoben, ist die Wirkung der Kraft unverändert!
Kräfte mit identischer Wirkung

Bild 4.17: Kräfte mit identischer Wirkung

In der Abbildung 4.17 siehst du zwei unterschiedliche Situationen mit derselben Wirkung auf den Körper. Im ersten Fall wird der Körper geschoben, im zweiten Fall mithilfe eines Seiles gezogen. Der Kraftvektor ist aber nur entlang seiner Wirklinie verschoben, somit ist die aus der Kraft resultierende Wirkung auf den Körper in beiden Fällen identisch.

4.3.5 Eine Frage des Modells

Übst du mit deinen Fingern Kraft auf ein Buch aus, kannst du unterschiedliche Wirkungen erleben. Drückst du mit einem Finger so gegen das Buch, dass die Wirklinie durch den Massenmittelpunkt des Buches verläuft, verschiebt deine Kraft das Buch (Translation, Bild 4.18 a). Dieselbe Wirkung erhältst du auch, wenn du mit zwei Fingern mit gleicher Kraft im selben Abstand vom Rand gegen eine Seite drückst (Bild 4.18 b).

Unterschiedliche Kräftediagramme bei gleicher Wirkung

Bild 4.18: Unterschiedliche Kräftediagramme bei gleicher Wirkung

Drückst du hingegen auf zwei gegenüber liegenden Seiten gegen das Buch und verlaufen die Wirklinien nicht durch den Massenmittelpunkt, erhältst du eine Drehung (Rotation, Bild 4.18 b).

Solange Kräfte keine Drehungen verursachen, kannst du das Modell des Massenpunktes (engl. point particle) verwenden und alle auf den Körper wirkenden Kräfte im Massenmittelpunkt angreifen lassen. Die physische Ausdehnung des Körpers ist in solchen Situationen vernachlässigbar.

Ist die Wirkung einer Kraft eine Drehung, ist das Modell des Massenpunktes nicht mehr ausreichend und wir müssen das Modell des starren Körpers (engl. rigid body) für unsere Überlegungen heranziehen. In diesem Modell wird die Form und Größe von Körpern berücksichtigt. In diesem Teil des Buches genügt uns noch das Modell des Massenpunktes. Erst im Teil über Drehbewegungen werden wir mit dem Modell des starren Körpers arbeiten.

4.3.6 Wo werden Kräfte eingezeichnet?

In unterschiedlichen Büchern und Webseiten findest du manchmal zum selben Thema voneinander abweichende Kräftediagramme. Ein Beispiel dazu siehst du in Bild 4.19. Gehen wir bei der Person von einem starren Körper aus, führt die Wirkung der Kräfte in allen drei Diagrammen zu keiner Bewegungsänderung. In diesem Sinn geben alle drei Kräftediagramme die Situation korrekt wieder.

Unterschiedliche Kräftediagramme bei gleicher Wirkung

Bild 4.19: Unterschiedliche Kräftediagramme bei gleicher Wirkung

Alle Kräftediagramme haben zum Ziel, die Wirkung in einer bestimmten Situation besser zu verstehen oder zu berechnen. Da Kräfte selbst nicht beobachtbar sind, zählt bei jedem Kräftediagramm nur die resultierende Wirkung.

4.3.7 Körper freischneiden

In der Mechanik triffst du oft auf Situationen, bei denen mehrere Körper und auch mehrere Kräfte im Spiel sind. Um solche Aufgaben erfolgreich zu lösen, ist es wichtig, alle Kräfte, die jeweils an einen Körper angreifen, zu finden. Das ermöglicht es in der Folge Gleichungen aufzustellen und die Aufgabe mathematisch zu lösen.

Das Isolieren der Kräfte für jeden einzelnen Körper wird als freischneiden bezeichnet. Im Englischen wird ein durch Freischneiden entstandenes Diagramm als free body diagram bezeichnet.

In Bild 4.20 siehst du auf der linken Seite ein Beispiel für ein einfaches mechanisches System. Zwei Massen \(m_1\) und \(m_2\) sind über eine Schnur, die über zwei Rollen läuft, miteinander verbunden.

Beispiel für das Freischneiden von Körpern

Bild 4.20: Beispiel für das Freischneiden von Körpern

Die Schnur überträgt nur die Kraft zwischen beiden Massen, ist aber sonst für die Aufgabe ohne Bedeutung. Vernachlässigen wir die Lagerreibung der Rollen und nehmen wir die Schnur als masselos an, wirken auf die Masse \(m_1\) zwei senkrechte Kräfte:

  • Die Gewichtskraft \(G_1\) nach unten und
  • die Seilkraft \(S\) nach oben.

Auf die Masse \(m_2\) wirken ebenfalls zwei senkrechte Kräfte:

  • Die Gewichtskraft \(G_2\) nach unten und
  • die Seilkraft gleiche \(S\) nach oben.

Die für die diese Aufgaben relevanten Körper und die an ihnen angreifenden Kräfte siehst du in Bild 4.20 auf der rechten Seite. Daran kannst du erkennen, dass es sich bei dieser Aufgabe nur um ein eindimensionales Problem handelt. In den kommenden Kapiteln werden wir diese Technik immer wieder benötigen.