B.5 Differenzial- und Integralrechnung
Die Differenzial- und Integralrechnung (Sammelbegriff Infinitesimalrechnung, engl. calculus) ist ein sehr wichtiger Teil der Mathematik für die Physik. Mit ihrer Hilfe können wir Veränderungen und Bewegungen exakt berechnen, wie zum Beispiel die Bewegung von Himmelskörpern oder das Laden eines Kondensators. Ohne Infinitesimalrechnung ist das oft nur näherungsweise möglich, wenn überhaupt.
Zwei kluge Köpfe, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz (Bild B.50), haben unabhängig voneinander Mitte des 17. Jahrhunderts bedeutende Beiträge zu diesem Thema geleistet. Isaac Newton hat das neue Verfahren dann auch gleich in seinem bahnbrechenden Werk „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ verwendet, um die Bewegung von Objekten und die Gesetze der Gravitation mathematisch zu beschreiben.
Uns ist es vor allem ein Anliegen, dass du die Grundbegriffe und Zusammenhänge verstehst, daher verzichten wir oft auf exakte mathematische Herleitungen und beschränken uns auf anschauliche Beispiele, die sich dann verallgemeinern lassen.
B.5.1 Grenzwert
Ein sehr wichtiger Begriff der Infinitesimalrechnung ist der des Grenzwerts (oder Limes). Ein Grenzwert einer Folge ist eine Zahl, der die Folgenglieder immer näher kommen, je weiter du in der Folge voranschreitest. Betrachten wir dazu die Folge
\[ a_{n}=\frac{1}{n} = 1, \frac{1}{2}, \frac{1}{3}, \frac{1}{4}, \frac{1}{5}, \frac{1}{6}, \ldots \]
Mit steigendem Wert \(n\) streben die Folgenglieder gegen die Zahl null. Null wird der Grenzwert dieser Folge genannt.
Ist \(a\) der Grenzwert der Folge \(a_{n}\) mit \(n\in \mathbb {N}\), wird geschrieben: \[ \lim _{{n\to \infty }}a_{n}=a \] |
Besitzt eine Folge einen Grenzwert, wird sie konvergent genannt. Im Gegensatz dazu heißt eine Folge ohne Grenzwert divergent. Ein Beispiel für eine divergente Folge wäre:
\[ a_{n}=(-1)^{n} = -1, 1, -1, 1, -1, 1, -1, 1,\ldots \]
Mit steigendem \(n\) springen die Folgenglieder zwischen den Werten −1 und 1 hin und her, ohne sich einem Wert zu nähern.
B.5.2 Differenzenquotient einer Funktion
In Bild B.51 siehst du eine Funktion und zwei Punkte auf ihr: \(P_0 = (x_0,{\rm f}(x_0))\) und \(P_1 = (x_1,{\rm f}(x_1))\).
Als Differenzenquotient (engl. difference quotient) wird der Quotient aus den beiden Differenzen \(\Delta y\) und \(\Delta x\) bezeichnet. Er lautet ausgeschrieben:
\[\begin{equation} \frac{\Delta y}{\Delta x} = \frac{{\rm f}(x_1)-{\rm f}(x_0)}{x_1-x_0} \tag{B.42} \end{equation}\]
Der Differenzenquotient gibt die mittlere Änderungsrate (engl. average rate of change) der Funktion \({\rm f}\) im Intervall \([x_0,x_1]\) an und entspricht der Steigung der Sekante durch die beiden Punkte \(P_0\) und \(P_1\) im Graph der Funktion.
B.5.3 Differenzialquotient einer Funktion
Die Steigung der Sekante gibt uns einen groben Überblick über die Steigung der Kurve. Aber eigentlich sind wir an der Steigung an einer einzigen Stelle der Kurve interessiert. Setzen wir beide Punkte im Differenzenquotienten gleich, erhalten wir allerdings den unbestimmten Ausdruck \(0/0\).
Wir verwenden daher den Grenzwertbegriff und definieren den Differenzialquotienten (engl. differential quotient):
\[\begin{equation} {\rm f}'(x_0) = \frac{d y}{d x} = \lim _{x_1\to x_0} \frac{{\rm f}(x_1)-{\rm f}(x_0)}{x_1-x_0} \tag{B.43} \end{equation}\]
Rücken wir die Stelle \(x_1\) unendlich nahe an die Stelle \(x_0\), erhalten wir durch den Differenzialquotient \(d y/d x\) die Steigung der Funktion (Tangentensteigung im Kurvenpunkt) an der Stelle \(x_0\) (Bild B.52). Diese Steigung wird auch momentane Änderungsrate (engl. instantaneous rate of change) genannt.
Die Funktion \({\rm f}'(x)\), die zu jeder Stelle \(x\) die Tangentensteigung der Funktion \({\rm f}(x)\) liefert, wird Ableitungsfunktion genannt. Das Ermitteln einer Ableitungsfunktion zu einer gegebenen Funktion wird differenzieren oder ableiten genannt.
B.5.4 Ableitung von x²
Der Grenzwert eines Differenzenquotienten, also der Differenzialquotient, lässt sich zwar einfach definieren, aber wie lässt er sich für eine konkrete Funktion berechnen?
Betrachten wir als ein einfaches Beispiel die Funktion \(f(x)=x^2\). Der Differenzialquotient lautet für diese Funktion:
\[ {\rm f}'(x) = \lim _{x_1\to x_0} \frac{x_1^2-x_0^2}{x_1-x_0} \]
Mithilfe der dritten binomischen Formel lässt sich der Zähler in ein Produkt aufteilen:
\[\begin{align} {\rm f}'(x) = {} & \lim _{x_1\to x_0} \frac{(x_1+x_0)\cdot\cancel{(x_1-x_0)}}{\cancel{x_1-x_0}} \\ = {} & \lim _{x_1\to x_0} (x_1+x_0) \\ \end{align}\]
Der problematische Nenner kürzt sich in diesem Fall und wir können für \(x_1\) gleich den Wert \(x_0\) einsetzen und erhalten \(2\cdot x_0\). Dies können wir an jeder Stelle machen und so erhalten wir als Ableitung der Funktion \({\rm f}(x)=x^2\) die Funktion:
\[ {\rm f}'(x) = 2x \]
Für viele Funktionen, wie zum Beispiel \(\sin(x)\), \(\ln(x)\) oder \(e^x\) gibt es ebenfalls Tricks, wie sich der problematische Nenner umgehen und sich die Ableitung der Funktion berechnen lässt. Ein beliebter Trick ist die Annäherung einer Funktion durch eine Potenzreihenentwicklung.
B.5.5 Nicht differenzierbare Funktionen
Eine Funktion \({\rm f}(x)\) wird als differenzierbar (in einem Intervall) bezeichnet, wenn die Ableitung der Funktion an jeder Stelle des Definitionsbereichs existiert. Geometrisch ist die Ableitung einer Funktion \({\rm f}(x)\) an einer Stelle \(x=x_0\) die Steigung des Funktionsgraphen (Tangentensteigung) an dieser Stelle. Nicht differenzierbare Funktionen kannst du daher an ihrem Funktionsgraphen erkennen. Besitzt der Graph Stellen, an denen sich keine eindeutige Tangente zeichnen lässt, hast du eine nicht differenzierbare Funktion gefunden.
Ein Beispiel für eine nicht differenzierbare Funktion ist die Betragsfunktion \({\rm f}(x)=|x|\). Wie du am Funktionsgraphen (Bild B.53) erkennen kannst, lässt sich an der Stelle \(x=0\) keine eindeutige Tangente an die Kurve legen.
Weitere Beispiele für nicht differenzierbare Funktionen sind:
B.5.6 Ableitungsregeln für ausgewählte Funktionen
Ist \(a\) eine beliebige reelle Zahl, \(n\) eine beliebige rationale Zahl und \(e\) die eulersche Zahl, dann gelten folgende Ableitungsregeln:
Name der Funktion | Funktion | Ableitung |
---|---|---|
Konstante Funktion | \(a\) | \(0\) |
lineare Funktion | \(x\) | \(1\) |
\(a\cdot x\) | \(a\) | |
Quadratische Funktion | \(x^2\) | \(2x\) |
Quadratwurzel Funktion | \(\sqrt{x}\) | \(\displaystyle\frac{1}{2}\cdot\frac{1}{\sqrt{x}}\) |
Potenzfunktion | \(x^n\) | \(n\cdot x^{n-1}\) |
Exponentialfunktion | \(e^x\) | \(e^x\) |
\(e^{a\cdot x}\) | \(a\cdot e^{a\cdot x}\) | |
\(a^x\) | \(\ln(a)\cdot a^x\) | |
Natürlicher Logarithmus | \(\ln(x)\) | \(\displaystyle\frac{1}{x}\) |
Logarithmus | \(\log_a(x)\) | \(\displaystyle\frac{1}{x\cdot \ln(a)}\) |
Sinus | \(\sin(x)\) | \(\cos(x)\) |
Cosinus | \(\cos(x)\) | \(-\sin(x)\) |
Tangens | \(\tan(x)\) | \(\displaystyle\frac{1}{\cos^2(x)}\) |
Cotangens | \(\cot(x)\) | \(-\displaystyle\frac{1}{\sin^2(x)}\) |
Arcussinus | \(\sin^{-1}(x)\) | \(\displaystyle\frac{1}{\sqrt{1-x^2}}\) |
Arcuscosinus | \(\cos^{-1}(x)\) | \(-\displaystyle\frac{1}{\sqrt{1-x^2}}\) |
Arcustangens | \(\tan^{-1}(x)\) | \(\displaystyle\frac{1}{1+x^2}\) |
Arcuscotangens | \(\cot^{-1}(x)\) | \(-\displaystyle\frac{1}{1+x^2}\) |
B.5.7 Ableitungsregeln für zusammengesetzte Funktionen
Sind \(f(x)\) und \(g(x)\) zwei differenzierbare Funktionen und \(a\) eine beliebige reelle Zahl, dann gelten folgende Ableitungsregeln:
Name der Regel | Funktion | Ableitung |
---|---|---|
Ableitung eines Vielfachen | \(a\cdot {\rm f}(x)\) | \(a\cdot {\rm f}'(x)\) |
Ableitung einer Summe | \({\rm f}(x) + {\rm g}(x)\) | \({\rm f}'(x) + {\rm g}'(x)\) |
Produktregel | \({\rm f}(x)\cdot {\rm g}(x)\) | \({\rm f}'(x)\cdot {\rm g}(x) + {\rm f}(x)\cdot {\rm g}'(x)\) |
Quotientenregel | \(\displaystyle\frac{{\rm f}(x)}{{\rm g}(x)}\) | \(\displaystyle\frac{{\rm f}'(x)\cdot {\rm g}(x) − {\rm f}(x)\cdot {\rm g}'(x)}{g(x)^2}\) |
Kettenregel | \({\rm f}({\rm g}(x))\) | \({\rm f}'({\rm g}(x))\cdot {\rm g}'(x)\) |
B.5.8 Bezeichnungen für Ableitungen
Hängt eine Funktion \({\rm f}\) nur von einer einzigen Variablen \(x\) ab, dann wird meistens die Strich-Notation verwendet. Dann bedeutet:
- \({\rm f}'(x)\), die erste Ableitung von \({\rm f}(x)\),
- \({\rm f}''(x)\), die zweite Ableitung von \({\rm f}(x)\)
- \({\rm f}'''(x)\), die dritte Ableitung von \({\rm f}(x)\)
- \(\ldots\)
Ebenfalls gebräuchlich ist die Leibniz-Notation für die Ableitung einer Funktion. Dabei wird ausgeschrieben, nach welcher Variable abgeleitet wird:
\(\displaystyle\frac{d {\rm f}}{dx}\), die erste Ableitung der Funktion \({\rm f}(x)\),
\(\displaystyle\frac{d^2 {\rm f}}{dx^2}\), die zweite Ableitung der Funktion \({\rm f}(x)\)
- \(\displaystyle\frac{d^3 {\rm f}}{dx^3}\), die dritte Ableitung der Funktion \({\rm f}(x)\)
\(\ldots\)
Diese Schreibweise erinnert aus gutem Grund an die Bruchschreibweise. Dennoch wird dieser Ausdruck nicht als „df durch dx“, sondern als „df nach dx“ ausgesprochen. Die Leibniz-Notation ist bei Funktionen, die von mehreren Variablen abhängig ist, unbedingt notwendig. Nur so ist eindeutig festgelegt, nach welcher der Variablen die Funktion abgeleitet werden soll.
Die Darstellungen \(\sin(x)'\) und \(\displaystyle\frac{d}{dx}\sin(x)\) bedeuten beide dasselbe: die Ableitung der Funktion \(\sin(x)\).
Viele Funktionen in der Physik sind von der Zeit abhängig. Daher hat sich in der Physik eine eigene Notation für die Ableitung nach der Zeit entwickelt. In der Punkt-Notation deuten Punkte über einem Funktionsnamen die Ableitung nach der Zeit an:
\(\dot{\rm f} = \displaystyle\frac{d {\rm f}}{dt}\), die erste Ableitung der Funktion \({\rm f}\) nach der Zeit \(t\),
\(\ddot{\rm f} = \displaystyle\frac{d^2 {\rm f}}{dt^2}\), die zweite Ableitung der Funktion \({\rm f}\) nach der Zeit \(t\),
- \(\dddot{\rm f} = \displaystyle\frac{d^3 {\rm f}}{dt^3}\), die dritte Ableitung der Funktion \({\rm f}\) nach der Zeit \(t\),
\(\ldots\)
Symbolisch erinnert diese Schreibweise an einen Zeit-Punkt im Gegensatz zu einem Zeit-Intervall.
B.5.9 Bestimmtes Integral
Um den Flächeninhalt unter einer Kurve näherungsweise zu berechnen, zerlegen wir die Fläche in rechteckige Streifen, die wir relativ einfach berechnen können. Dabei können wir jeweils den kleinsten Funktionswert im Intervall des Streifens als Höhe des Rechteck-Streifens wählen (Untersumme, engl. lower sum) oder den höchsten Wert (Obersumme, engl. upper sum).
Aufgrund der Konstruktion von Unter- und Obersumme fällt sofort auf: Der exakte Wert der Summe muss immer größer gleich der Untersumme und kleiner gleich der Obersumme sein. In Bild B.54 siehst du Untersumme, Flächeninhalt und Obersumme im Intervall \([2,8]\) am Beispiel der linearen Funktion \({\rm f}(x)=\frac{1}{2}\cdot x\) mit zehn Streifen.
Erhöhen wir die Anzahl der Streifen und verkleinern damit die Streifenbreite, nähern sich beide Summen dem tatsächlichen Flächeninhalt – im Fall der Untersumme von unten, im Fall der Obersumme von oben. Gibt es einen gemeinsamen Grenzwert der Folge der Unter- und der Folge der Obersummen, wird dieser bestimmtes Integral von \({\rm f}\) im Intervall \([a; b]\) genannt und wird geschrieben als:
\[ \int_{a}^{b} {\rm f}(x)\cdot \text{d}x \]
Das langgezogene „S“ soll uns daran erinnert, dass es sich bei dem Integral um eine „unendliche“ Summe von Streifen der Höhe \({\rm f}(x)\) und „unendlich“ schmalen Breite \(dx\) handelt. Die Zahlen \(a\) und \(b\) heißen Grenzen und geben die Funktionswerte an, zwischen denen die Summe berechnet wird. In einem Integral wird die Funktion \({\rm f}(x)\) als Integrand bezeichnet und das Berechnen der Summe als Integrieren.
B.5.10 Stammfunktion
Im letzten Abschnitt haben wir absichtlich eine lineare Funktion als Beispiel gewählt, denn hier kann der Flächeninhalt besonders einfach auch ohne Integralrechnung berechnet werden. Beginnen wir zunächst mit einer unteren Grenze von Null (\(a=0\)). Dann hat die Fläche unter der Funktion die Form eines rechtwinkeligen Dreiecks (Bild B.55).
Als Beispiel berechnen wir das bestimmte Integral der Kurve \({\rm f}(x)=\frac{1}{2}\cdot x\) im Intervall \([0,b]\) aus.
\[\begin{align} \int _{0}^{b}{\rm f}(x)\,\mathrm {d}x = {} & \frac{1}{2}\cdot b\cdot {\rm f}(b) \\ = {} & \frac{1}{2}\cdot b\cdot \frac{1}{2}\cdot b \\ = {} & \frac{1}{4}\cdot b^2 \\ \end{align}\]
Am Ergebnis kannst du sehen, dass sich der Flächeninhalt durch eine weitere Funktion ausdrücken lässt, in unserem Fall ist das die Funktion \({\rm F}(x)=\frac{1}{4}\cdot x^2\). Ist die untere Grenze ungleich null, kann der Flächeninhalt als Differenz von zwei Dreiecken berechnet werden.
Gibt es eine Funktion \({\rm F}(x)\), die den Flächenzuwachs von \({\rm f}(x)\) beschreibt, lässt sich das bestimmte Integral im Intervall \([a,b]\) wie folgt berechnen: \[ \int _{a}^{b}{\rm f}(x)\,\mathrm {d}x = {\rm F}(b)-{\rm F}(a). \] |
Die Funktion \({\rm F}\) wird Stammfunktion von \({\rm f}\) (engl. antiderivative) genannt.
In Bild B.56 siehst du die Funktion \({\rm f}(x)=\frac{1}{2}\cdot x\) und ihre Stammfunktion \({\rm F}(x)=\frac{1}{4}\cdot x^2\) mit der Flächenberechnung im konkreten Intervall \([2,4]\).
Erhöhst du die obere Grenze – gibst anschaulich ein sehr dünnes Streifchen dazu – siehst du im Bild, dass der Flächeninhalt stärker als linear wächst. Wie wir berechnet haben, ist der Flächenzuwachs sogar quadratisch.
Es gibt allerdings auch Funktionen, für die es keine Stammfunktion gibt – deren Flächenzuwachs also durch keine Funktion beschrieben werden kann. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist die Normalverteilungsfunktion. In solchen Fällen muss der Flächeninhalt näherungsweise – zum Beispiel mit Unter- oder Obersumme – berechnet werden. Im Fachgebiet der numerischen Integration findest du noch bessere Methoden für die näherungsweise Berechnung des bestimmten Integrals.
B.5.11 Unbestimmtes Integral
Zu einer gegebenen Funktion in einem Intervall, die eine Stammfunktion besitzt, gibt es immer unendlich viele Stammfunktionen die sich nur um eine additive Konstante \(C\) unterscheiden. Jede davon kannst du zur Berechnung des bestimmte Integral verwenden. Da in der Berechnung eine Differenz vorkommt, hebt sich diese additive Konstante im Ergebnis immer auf.
In Bild B.57 siehst du die Berechnung des Flächeninhalts unter der Funktion \({\rm f}(x)=\frac{1}{2}\cdot x\) mit der zur Stammfunktion \({\rm F}(x)=\frac{1}{4}\cdot x^2\) um \(+1\) verschobenen Funktion \({\rm F}^\star(x)=\frac{1}{4}\cdot x^2+1\).
Existiert für eine Funktion \({\rm f}\) einen Stammfunktion \({\rm F}\), gibt es für das Integral eine ganze Kurvenschar (engl. family of curves) an möglichen Funktionen \({\rm F}+C\).
Das unbestimmte Integral (also ohne Angabe von bestimmten Grenzen) lautet dann: \[ \int{\rm f}(x)\cdot \text{d}x = {\rm F}(x)+C \] mit \(C\) einer beliebigen reellen Zahl (Integrations-Konstante). |
Die Angabe der Integrations-Konstante \(C\) mag dir überflüssig erscheinen, denn zur Berechnung der Summe beim bestimmten Integral wird wohl jeder die Stammfunktion (also mit \(C=0\)) verwenden. Das Integral hat aber auch andere Anwendungen. Zum Beispiel kommt es als Lösung in Differenzialgleichungen vor. Und hier ist es wesentlich, dass alle möglichen Lösungen angegeben werden!
B.5.12 Integrationsregeln
Sind \({\rm f}(x)\) und \({\rm g}(x)\) zwei Funktionen, \(a\), \(b\), \(C\) beliebige reelle Zahlen und \(n\) eine beliebige natürliche Zahl, dann gelten folgende Integrationsregeln:
Name der Regel | Regel |
---|---|
Konstante Regel | \(\displaystyle \int a \,\mathrm {d} x = a\cdot x + C\) |
Potenzregel | \(\displaystyle \int x^n \,\mathrm {d} x = \frac{x^{n+1}}{n+1} + C \quad \text{für } n \neq -1\) |
Faktorregel | \(\displaystyle \int (a \cdot {\rm f}(x)) \,\mathrm {d} x = a \cdot \int {\rm f}(x) \,\mathrm {d} x\) |
Summenregel | \(\displaystyle \int ({\rm f}(x) + {\rm g}(x)) \,\mathrm {d} x = \int {\rm f}(x) \,\mathrm {d} x + \int {\rm g}(x) \,\mathrm {d} x\) |
Trigonometrische Regel | \(\displaystyle \int \sin(x) \,\mathrm {d} x = -\cos(x) + C\) |
\(\displaystyle \int \cos(x) \,\mathrm {d} x = \sin(x) + C\) | |
Potenzregel für e-Funktionen | \(\displaystyle \int e^x \,\mathrm {d} x = e^x + C\) |
Partielle Integration | \({\displaystyle \int {\rm f}'(x)\cdot {\rm g}(x)\,\mathrm {d} x={\rm f}(x)\cdot {\rm g}(x)-\int {\rm f}(x)\cdot {\rm g}'(x)\,\mathrm {d} x}\) |
Substitutionsregel | \(\displaystyle \int {\rm f}({\rm g}(x)) \cdot {\rm g}'(x) \,\mathrm {d} x = \int {\rm f}(u) \,\mathrm {d} u\), mit \(u = {\rm g}(x)\) |
Links:
B.5.13 Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung
Der Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung (engl. fundamental theorem of calculus) verbindet das Differenzieren und das Integrieren. Er besagt, dass das Ableiten und das Integrieren in einem gewissen Sinne die Umkehrung des jeweils anderen ist.
Wir besprechen diesen Zusammenhang anhand eines einfachen Beispiels. Aus den Funktionsgraphen der Funktionen \(f(x)=x^2/4\) (Bild B.58, oben) und ihrer Ableitung (Bild B.58, unten) kannst du erkennen:
Der Funktionswert der abgeleiteten Funktion \({\rm f}'(x_0)\) entspricht der Steigung \(k\) der Tangente an der Stelle \(x_0\).
Der Funktionswert der ursprünglichen Funktion \({\rm f}(x_0)\) (Stammfunktion von \({\rm f}'\)) entspricht dem Flächeninhalt unter der abgeleiteten Funktion bis zur Stelle \(x_0\). Hier gilt für das bestimmte Integral: \(\int_0^{x_0} {\rm f}'(x) \;dx = {\rm f}(x_0)\).
Jetzt ist die Tangentensteigung der Funktion aber unabhängig davon, ob die Funktion auf der y-Achse nach oben oder unten verschoben ist. Diese Information geht beim Ableiten verloren. Das Integral liefert den Wert der Stammfunktion also nur bis auf eine Konstante \(C\), der Verschiebung, um die die ursprüngliche Funktion senkrecht verschoben ist. In unserem gewählten Beispiel ist der Wert der Funktion \({\rm f}\) an der Stelle \(x=0\) gleich null (\({\rm f}(0)=0\)) – der Funktionsgraph also nicht senkrecht verschoben. In diesem Sonderfall erhalten wir durch die Integration von \({\rm f}'(x)\) sogar die exakte Funktion \({\rm f}(x)\).
B.5.14 Mehr als nur Flächeninhalt
Das Integrieren ist weit mehr als nur das Bestimmen des „Flächeninhalts unter der Kurve“! Mithilfe der Integralrechnung lässt sich prinzipiell alles aufsummieren, das in unendlich kleine Teile zerteilt und durch eine Funktion dargestellt werden kann (Bild B.59).
In der Physik findest du oft ein sogenanntes Wegintegral, bei dem bestimmte Eigenschaften entlang eines Weges aufsummiert werden (zum Beispiel Arbeit, Potenzialdifferenz, Beschleunigung, etc.). Das Integral über geschlossene Kurven wird auch als Ringintegral bezeichnet und mit dem Symbol \(\textstyle \oint\) geschrieben.
Hier noch weitere Beispiele für Integration in der Physik:
- Die Masse eines Körpers kann durch Integration der Dichte über das Volumen des Körpers berechnet werden.
- Der Schwerpunkt eines Systems aus Massenpunkten kann durch Integration der Massen gewichtet mit ihren jeweiligen Positionen berechnet werden.
- Der magnetische Fluss durch eine Fläche kann durch Integration des magnetischen Feldes über die Fläche berechnet werden.
- Das Trägheitsmoment um eine Achse kann durch Integration der Massenverteilungsfunktion berechnet werden.
Am besten denkst du bei dem Begriff Integral immer an „Summe“ und weniger an „Flächeninhalt“.