16.5 Raum-Zeit-Diagramme
In Bild 16.38 siehst du einen sogenannten Lichtkegel – er stellt die Ausbreitung von Licht in einem Raum-Zeit-Diagramm dar.
In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit der Darstellung von Ereignissen in Raum-Zeit-Diagrammen unter Berücksichtigung der Effekte der speziellen Relativitätstheorie. Diese speziellen Raum-Zeit-Diagramme (engl. spacetime diagrams) werden nach Hermann Minkowski, Einsteins ehemaligen Mathematikprofessor an der ETH Zürich, auch Minkowski-Diagramme genannt. Sie sind dabei nichts anderes als die grafische Darstellung der Lorentz-Transformation. Sie gestatten es, die Zusammenhänge von Relativität von Zeit, Länge und Gleichzeitigkeit ohne Formeln zu verstehen.
16.5.1 Das Ruhesystem
So wie das normale Orts-Zeit-Digagramm beschreibt das zweidimensionale Minkowski-Diagramm Ereignisse in Raum und Zeit einer eindimensionalen Welt. In Minkowski-Diagrammen wird aber die Ortsachse waagrecht und die Zeitachse senkrecht gezeichnet!
Im Bild 16.39 siehst du ein schwarzes Raumschiff (A), das sich zu allen Zeiten an derselben Stelle (\(x=0\)) befindet. Das schwarze Achsenkreuz ist also das Ruhesystem des schwarzen Raumschiffs. Das blaue Raumschiff (B) entfernt sich von dem schwarzen Raumschiff in Richtung positiver x-Werte. Im Gegensatz dazu bewegt sich das rote Raumschiff (C) in negativer \(x\)-Achsen Richtung. Die Linien, die Körper im Minkowski-Diagramm hinterlassen, werden Weltlinien (engl. world line) genannt. Wie im gewöhnlichen Orts-Zeit-Diagramm kannst du eine konstante Geschwindigkeit an einer konstanten Steigung der Weltlinie erkennen. Die Raumschiffe A (schwarz) und B (blau) sind also Inertialsysteme, das Raumschiff C (rot) nicht.
16.5.2 Geschwindigkeiten im Raum-Zeit-Diagramm
Betrachten wir zunächst die Einheiten der Achsen etwas näher. Minkowski-Diagramme sind für große Geschwindigkeiten ausgelegt. Deshalb wird auf der Ortsachse statt Meter die Längen-Einheit Lichtsekunde (\(\mathrm{Ls}\)) gewählt. Also die Länge der Strecke, die das Licht in einer Sekunde zurücklegt (\(3\cdot 10^{8}\;\mathrm{m}\)!). Auf der senkrechten Achse ist das Produkt aus Lichtgeschwindigkeit und Zeit in Sekunden aufgetragen – also formal ebenfalls eine Lichtsekunde – und wird mit (\(c\cdot t\)) beschriftet (Bild 16.40). Eine Sekunde Zeitdifferenz (\(\Delta t = 1\;\mathrm{s}\)) entspricht einer Einheit auf der \(ct\)-Achse.
Was können wir über die Geschwindigkeit des blauen Raumschiffs sagen? Die Koordinaten bilden ein rechtwinkeliges Dreieck. Die Koordinatenwerte entsprechen den Katheten in diesem Dreieck. Der Tangens des Winkels \(\alpha\) ist das Verhältnis von Gegenkathete und Ankathete, also:
\[\begin{equation} \tan(\alpha) = \frac{x}{c\cdot t} = \frac{v\cdot t}{c\cdot t} = \frac{v}{c} \tag{16.13} \end{equation}\]
Du kannst also die Geschwindigkeit als Verhältnis \(v/c\) direkt im Diagramm ablesen. In unserem Beispiel bewegt sich das blaue Raumschiff also mit der Geschwindigkeit \(2/3\) der Lichtgeschwindigkeit von dem schwarzen Raumschiff weg. Der Winkel beträgt dabei \(\alpha = 33.69...^\circ\).
16.5.3 Weltlinien von Photonen
Licht legt in einer Sekunde eine Strecke von einer Lichtsekunde zurück. Die Einheiten wurden also so gewählt, dass die Weltlinie eines Photons – genannt Lichtlinie – einer \(45^\circ\) Geraden im Diagramm entspricht. Die gelbe Gerade mit positiver Steigung entspricht der Weltlinie eines Photons, das sich zum Zeitpunkt \(t=0\) am Ort \(x=0\) befunden hat und sich in positiver x-Richtung bewegt. Die Lichtlinie mit negativer Steigung entspricht einem Photon, das sich in negativer \(x\)-Achsenrichtung ausbreitet (Bild 16.41).
Da die Lichtgeschwindigkeit die Grenzgeschwindigkeit für jeden Körper ist (\(v<c\)), muss seine Weltlinie innerhalb seiner zwei Lichtlinien (Licht-Weltlinien) verlaufen! In einem Minkowski-Diagramm für eine zweidimensionale Welt werden aus den Lichtlinien Lichtkegel (engl. light cone) (Bild 16.38 in der Kapiteleinleitung).
16.5.4 Bewegte Inertialsysteme im Raum-Zeit-Diagramm
Nachdem sich das blaue Raumschiff mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, bildet das blaue Raumschiff ebenfalls ein Inertialsystem. Im Ruhesystem des blauen Raumschiffes bewegt es sich selbst nicht – sein Ort ist zu allen Zeiten \(x'=0\). Damit haben wir die Zeitachse im Minkowski-Diagramm für das blaue Inertialsystem gefunden (Bild 16.42).
Wie finden wir jetzt die Ortsachse für das blaue System? Auf der \(x\)-Achse findest du alle Ereignisse, die sich zum Zeitpunkt \(t=0\) gleichzeitig im schwarzen System ereignen. Ebenso muss die gesuchte \(x'\)-Achse die Menge aller Ereignisse sein, die sich zum Zeitpunkt \(t'=0\) ereignen.
Dafür verwenden wir einen Formationsflug. Hinter und vor dem blauen Raumschiff lassen wir ein grünes und ein rotes Raumschiff mit derselben Geschwindigkeit mitfliegen (Bild 16.43). Die Weltlinien sind daher parallele Strecken zur blauen Zeitachse. Das blaue Raumschiff sendet zum Zeitpunkt \(t=t'=0\) gleichzeitig jeweils ein Photon zu dem grünen und dem roten Raumschiff. Die Schnittpunkte der roten und grünen Weltlinie mit den Lichtlinien (gelben Geraden) entsprechen den Ereignissen \(E_1\) („Photon trifft beim grünen Raumschiff ein“) und \(E_2\) („Photon trifft beim roten Raumschiff ein“). Aus Sicht des schwarzen Systems finden diese beiden Ereignisse zu unterschiedlichen Zeiten statt. Aus Sicht des blauen Raumschiffes ereignen sich diese beiden Ereignisse aber gleichzeitig! Du siehst jetzt schon die Relativität der Gleichzeitigkeit.
Die Verbindungslinie (blau strichlierte Strecke) der beiden Ereignisse ist also eine Gerade gleichzeitiger Ereignisse im blauen System. Um die Gerade gleichzeitiger Ereignisse zum Zeitpunkt \(t'=0\) zu finden, müssen wir sie nur noch parallel durch den Koordinatenursprung verschieben.
Auf diese Weise kannst du die Achsen beliebig schnell bewegter Inertialsysteme im Minkowski-Diagramm konstruieren. Je größer die Relativgeschwindigkeit zum schwarzen System, desto mehr „klappt“ das Koordinatensystem für das Inertialsystem zusammen. Die Achsen liegen dabei immer symmetrisch bezüglich der Lichtlinie, die für alle Bezugssysteme gleich ist (Bild 16.44).
16.5.5 Bestimmung der Einheitslängen im bewegten Inertialsystem
Es fehlt noch die Skalierung der Achsen im bewegten Inertialsystem. Im Abschnitt Raum-Zeit-Abstand hast du eine Größe kennengelernt, die in allen Inertialsystemen denselben Wert hat, also invariant ist. Da wir nur eine Raum-Achse haben, reduziert sich der Ausdruck auf die Form
\[ s^2 = (c\cdot \Delta t)^{2}-\Delta x^{2} \]
Der Raum-Zeit-Abstand von Ursprung zum Einheitspunkt auf der schwarzen \(ct\)-Achse beträgt genau 1. Also
\[ (c\cdot t)^{2}-x^{2} = 1 \]
Das ist die Gleichung einer Einheits-Hyperbel in 2. Hauptlage. Da der Raum-Zeit-Abstand zwischen Ursprung und Einheitspunkt der Zeitachse für alle Inertialsysteme den gleichen Wert haben muss, befinden sich die Einheitspunkte aller Inertialsysteme auf dieser Hyperbel. Der Einheitspunkt auf der Zeitachse des bewegten blauen Bezugssystems ist daher der Schnittpunkt von Hyperbel und blauer Zeitachse (Bild 16.45). Je größer die Relativgeschwindigkeit, desto länger werden die Einheitsstrecken im Minkowski-Diagramm.
Eine analoge Überlegung liefert den Einheitspunkt auf der blauen Raum-Achse als Schnittpunkt mit der Einheits-Hyperbel in 1. Hauptlage. Jetzt haben wir das vollständige bewegte Inertialsystem.
Beim Ablesen der Koordinaten der Einheitspunkte des bewegten Inertialsystems im Ruhesystem (Bild 16.46) findest du natürlich den Wert des Lorentzfaktors.
16.5.6 Schiefwinkelige Koordinaten
Um die Koordinaten eines Ereignisses \(A\) in einem rechtwinkeligen Koordinatensystem abzulesen, misst du die Normalabstände \(x_A\) und \(c\cdot t_A\) zu den Koordinatenachsen (Bild 16.47, links)
Stehen die Achsen nicht im rechten Winkel, wird von einem schiefwinkeligen Koordinatensystem (engl. oblique coordinate system) gesprochen. Das Ablesen von Ereignissen in einem schiefwinkeligen Koordinatensystem funktioniert ähnlich. Zunächst zeichnest du parallele Geraden zu den Achsen durch das Ereignis. Der Abstand entlang der Parallelen von Ereignis und Zeitachse ist dann die \(x'\)-Koordinate und der Abstand entlang der Parallelen von Ereignis und Raum-Achse die \(ct'\)-Koordinate (Bild 16.47, rechts).
16.5.7 Zeitdilatation im Raum-Zeit-Diagramm
Betrachten wir als Nächstes die Zeitdilatation im Minkowski-Diagramm. Eine schwarze und eine blaue Uhr befinden sich zum Zeitpunkt \(t=t'=0\) im Ursprung und werden gleichzeitig gestartet. Beim Start der Uhren beginnen sie sich mit konstanter Geschwindigkeit voneinander zu entfernen.
Begeben wir uns in das schwarze Inertialsystem (Bild 16.48, links). Wir suchen die Anzeige der blauen Uhr zum Zeitpunkt \(t=1\;\mathrm{s}\) auf der schwarzen Uhr. Die Linie der Gleichzeitigkeit verläuft parallel zur \(x\)-Achse parallel durch diesen Zeitpunkt (schwarz strichlierte Linie). Der Schnittpunkt mit der \(ct'\)-Achse liefert einen Wert eindeutig unter \(1\;\mathrm{s}\) – die Zeit im blauen Raumschiff vergeht aus der Sicht des schwarzen Bezugssystems langsamer.
Wie stellt sich die Situation aus der Sicht des blauen Bezugssystems dar (Bild 16.48, rechts)? Die Linien der Gleichzeitigkeit sind jetzt parallel zur \(x'\)-Achse. Verschieben wir sie parallel durch den Zeitpunkt \(t'=1\;\mathrm{s}\) der blauen Uhr (blaue strichlierte Linie), erhalten wir die Anzeige der schwarzen Uhr zum selben Zeitpunkt. Der Schnittpunkt mit der \(ct\)-Achse liefert ebenfalls einen Wert eindeutig unter \(1\;\mathrm{s}\) – die Zeit im schwarzen Raumschiff vergeht aus der Sicht des blauen Bezugssystems ebenfalls langsamer.
16.5.8 Längenkontraktion im Raum-Zeit-Diagramm
Als Nächstes betrachten wir die Längenkontraktion im Minkowski-Diagramm. Zuvor müssen wir allerdings noch genau festlegen, was mit „Länge messen“ genau gemeint ist.
In der speziellen Relativitätstheorie geht es immer um Ereignisse, die an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden. Wir ordnen daher dem Stabanfang das Ereignis \(A\) und dem Stabende das Ereignis \(B\) zu. Mit „Länge messen“ ist dann gemeint, den räumlichen Abstand der Ereignisse \(A\) und \(B\) zum gleichen Zeitpunkt(!) zu bestimmen.
Begeben wir uns zunächst ins schwarze Bezugssystem und legen einen Stab der Länge \(1\;\mathrm{m}\) in den Ursprung (Bild 16.49, links). Da der Stab im schwarzen Bezugssystem ruht, sind die Weltlinien der Punkte Stabanfang und Stabende parallele Strecken zur \(ct\)-Achse. Um die Länge zu bestimmen, die aus unserer Sicht im blauen Bezugssystem gemessen wird, müssen wir zwei Ereignisse finden, zu denen Stabanfang und Stabende gleichzeitig im blauen System sind. Das ist immer dann der Fall, wenn Achse \(x'\) die Weltlinien von Stabanfang und -ende schneidet (zum Beispiel zum Zeitpunkt \(0\;\mathrm{s}\) im blauen System). Die Länge (räumlicher Abstand der Ereignisse \(A'\) und \(B'\)) ist deutlich kürzer als die blaue Einheitslänge – Längen im blauen Raumschiff erscheinen aus Sicht des schwarzen Systems verkürzt.
Legen wir jetzt einen Stab der Länge \(1\;\mathrm{m}\) in den Ursprung des blauen Bezugssystems (Bild 16.49, rechts). Der Stab ruht im blauen System und die Weltlinien von Stabanfang und Stabende verlaufen parallel zur \(ct'\)-Achse. Aus Sicht des blauen Systems befinden sich Stabanfang und -ende zum Zeitpunkt \(0\;\mathrm{s}\) im schwarzen Raumschiff zu den Ereignissen \(A\) und \(B\). Ihr räumlicher Abstand ist aber deutlich unter der schwarzen Einheitslänge – Längen im schwarzen Raumschiff erscheinen aus Sicht des blauen Systems ebenfalls verkürzt.
16.5.9 Gleichzeitigkeit im Raum-Zeit-Diagramm
Auch die Relativität der Gleichzeitigkeit lässt sich in einem Minkowski-Diagramm sehr anschaulich zeigen. Dazu wählen wir drei Ereignisse \(A\), \(B\) und \(C\), die sich im ruhenden Bezugssystem (\(v=0\)) gleichzeitig ereignen, nämlich zum Zeitpunkt \(0\;\mathrm{s}\).
Für relativ dazu bewegte Systeme finden alle drei Ereignisse nicht mehr gleichzeitig statt. Da das Ereignis \(B\) im gemeinsamen Ursprung aller Systeme liegt, findet es auch in allen Systemen zum Zeitpunkt \(0\;\mathrm{s}\) statt. Aber bewegt sich ein Raumschiff mit positiver Geschwindigkeit (\(v>0\)), hat die \(x\)-Achse eine positive Steigung. Ereignis \(C\) ereignet sich also bereits vor dem Zeitpunkt 0, Ereignis \(A\) danach (Bild 16.50, links). Bewegt sich umgekehrt ein Raumschiff mit negativer Geschwindigkeit (\(v<0\)), hat die \(x\)-Achse eine negative Steigung. Ereignis \(A\) ereignet sich also bereits vor dem Zeitpunkt 0 und das Ereignis \(C\) danach (Bild 16.50, rechts).
Wird das Kausalitätsprinzip nicht verletzt, wenn im roten Bezugssystem und im blauen Bezugssystem sich die Reihenfolge der Ereignisse vertauscht? Nein, denn die Ereignisse sind räumlich so weit voneinander getrennt, dass keines der Ereignisse Ursache oder Wirkung eines der jeweils anderen Ereignisse sein kann.
Links:
16.5.10 Zwillingsparadoxon im Raum-Zeit-Diagramm
Zum Abschluss betrachten wir noch das Zwillingsparadoxon im Raum-Zeit-Diagramm (Bild 16.51). Zum Zeitpunkt \(t=0\) trennen sich beide Zwillinge. Stella (blaues Inertialsystem \(S'\)) entfernt sich mit \(v=0{,}6\cdot c\) von ihrer Schwester Terra, die auf der Erde zurückbleibt (schwarzes Inertialsystem \(S\)).
Auf der Hinreise sieht Stella ihre Schwester um den Lorentzfaktor langsamer altern. Die blau strichlierten Linien parallel zur \(x'\)-Achse zeigen die Gleichzeitigkeit aus der Sicht des Raumschiffs beim Hinflug. Bevor sie das Raumschiff am Zielort wechselt, ist Terra aus der Sicht von Stella auf der Erde jünger als sie.
Sobald sie im rückreisenden Raumschiff (\(v=-0{,}6\cdot c\)) angekommen ist, befindet sie sich in einem neuen Inertialsystem \(S''\). In diesem zeigen die lila Linien parallel zur \(x''\)-Achse die Gleichzeitigkeit an. Durch den Wechsel ist Terra auf der Erde aus der Sicht des reisenden Zwillings schlagartig einige Jahre gealtert. Sie ist dabei aus der Sicht von Stella so viel älter, dass Terra trotz langsameren Alterns auf der Rückreise beim Zusammentreffen auf der Erde älter als Stella ist.
Im physikalisch korrekten Fall, wenn endliche Beschleunigungsphasen des Raumschiffs berücksichtigt werden, kommt es bei der Umkehr aus der Sicht von Stella natürlich nicht zu einem abrupten Sprung in der Zeit von Terra, sondern die Alterung beschleunigt sich kontinuierlich beim Bremsvorgang und verlangsamt sich dann wieder bei der Beschleunigung des Raumschiffs auf der Rückreise (Bild 16.52, b).
Aus der Sicht von Terra (a) auf der Erde altert jetzt auch Stella nicht mehr gleichmäßig, da sie während der Beschleunigungsphasen ihre Geschwindigkeit ständig ändert.