2.2 Arbeitsweise der Physik
In Bild 2.5 siehst du den theoretischen Physiker Leonard Susskind bei einem Vortrag.
In diesem Kapitel erfährst du etwas über die Arbeitsweise von Physikerinnen und Physikern und einige wichtige Grundbegriffe, die uns das ganze Buch über begleiten werden.
2.2.1 Naturwissenschaftliche Methode
Physikerinnen und Physiker beobachten zunächst die Natur oder den Ausgang von Experimenten. Mithilfe dieser Beobachtungen und Messungen versuchen sie ein (üblicherweise aus mathematischen Formeln bestehendes) Modell der Natur zu formulieren (Hypothese). Mit diesen Modellen wird versucht, den Ausgang von neuen Experimenten vorherzusagen. Zeigt sich die Vorhersage bei der Durchführung des Experiments, wird das Modell bestätigt. Widerspricht die Vorhersage dem Ausgang des Experiments, muss das Modell verbessert, erweitert oder manchmal sogar durch ein neues Modell ersetzt werden. Sehr erfolgreiche Modelle werden schließlich zu physikalischen Gesetzen (Naturgesetzen).
Diese Art, zu Erkenntnissen zu kommen, wird naturwissenschaftliche Methode (engl. scientific method) genannt. Als Begründer gilt Galileo Galilei, der sie um 1600 bei seinen Forschungen verwendete. Bis heute findet der Erkenntnisgewinn in der Physik nach dieser Methode statt.
2.2.2 Spezialisierung nach Arbeitsweise
Nach der naturwissenschaftlichen Methode bilden Experiment und Modellbildung eine Einheit. Trotzdem hat sich im Laufe der Zeit eine Spezialisierung auf den jeweiligen Aspekt der Physik ergeben. Heute lässt sich die Physik grob in zwei Teilgebiete einteilen:
Die Theoretische Physik (engl. theoretical physics) ist der Zweig der Physik, der mathematische Modelle und Abstraktionen von physischen Objekten und Systemen entwickelt, um natürliche Phänomene zu beschreiben und vorherzusagen.
Im Gegensatz dazu ist die Experimentalphysik (engl. experimental physics) der Zweig der Physik, der sich mit der Beobachtung von physikalischen Phänomenen und dem konkreten Aufbau, der Durchführung und der Auswertung von Experimenten beschäftigt. Diese widerlegen oder bestätigen dann die Modelle der theoretischen Physik.
Immer mehr Bedeutung gewinnt auch die Verwendung des Computers in der Physik. Er hilft den theoretischen Physikerinnen und Physikern bei der Entwicklung von neuen Modellen und den experimentellen Physikerinnen und Physikern bei der Auswertung von real durchgeführten Experimenten.
Darüber, ob die Computerphysik (engl. computational physics) – neben der theoretischen Physik und der Experimentalphysik – bereits als dritter Zweig der Physik bezeichnet werden darf, gibt es noch keine einheitliche Meinung.
2.2.3 Gedankenexperimente
Bei der Entwicklung von neuen Modellen oder zur Widerlegung von bestehenden Modellen verwenden Physikerinnen und Physiker am Anfang oft sogenannte Gedankenexperimente (engl. thought experiment), also „Was wäre, wenn“ Überlegungen im Kopf.
Hier ein Beispiel: Das Bild 2.7 zeigt Galileis Gedankenexperiment zu frei fallenden Körpern. Angenommen, du hast zwei Körper, einer leichter (1) als der andere (2). Angenommen, der schwerere Körper fällt schneller. Wenn du den leichteren Körper jetzt unter den schwereren Körper (3) legst, sollte der leichtere Körper den Fall des schwereren Körpers verlangsamen. Wenn du andererseits aber beide Körper zusammenklebst, entsteht ein noch schwererer Körper (3), der noch schneller fallen sollte als (1) und (2). Der Widerspruch beweist (durch reductio ad absurdum), dass die Annahme falsch sein muss.
Führt ein Gedankenexperiment zu einem neuen Modell, muss es natürlich durch reale Experimente überprüft werden.
2.2.4 Mathematische Lehrsätze und physikalische Gesetze
Physikalische Gesetze (engl. physical law) und mathematische Lehrsätze (engl. mathematical theorem) unterscheiden sich grundlegend.
Ein mathematisches Gesetz wie zum Beispiel der Lehrsatz des Pythagoras braucht nur ein einziges Mal bewiesen (Bild 2.8) zu werden und ist damit für alle Zeiten gültig.
Lassen sich für ein physikalisches Modell über viele Jahre keine Experimente finden, die das Modell widerlegen, wird daraus ein physikalisches „Gesetz“. Ein physikalisches Gesetz kann aber nie endgültig bewiesen werden! Der Philosoph Karl Popper (Bild 2.9) bezeichnet dieses Prinzip als empirische Falsifikation.
2.2.5 Grundannahmen
Die Physik geht von einigen unbestätigten Grundannahmen aus. Diese erscheinen uns plausibel und gelten nur so lange, bis ein Experiment ein abweichendes Verhalten zeigt. Über viele dieser Grundannahmen hast du dir vielleicht noch nie Gedanken gemacht, weil sie dir so selbstverständlich und „logisch“ erscheinen. Aber prinzipiell muss immer auch die Möglichkeit in Betracht bezogen werden, dass diese Grundannahmen nicht zutreffen.
Beim Kausalitätsprinzip (engl. causality) gehen wir davon aus, dass jede Wirkung (engl. effect) eine Ursache (engl. cause) hat. Tritt zum Beispiel ein Erdbeben (Wirkung) an einer bestimmten Stelle auf, hat sich zuvor über viele Jahre eine Schubspannung an der Bruchlinie von tektonischen Platten aufgestaut (Ursache).
Mit der Universalität der Naturgesetze (engl. universality of physical laws) gehen wir davon aus, dass alle Naturgesetze ortsunabhängig sind, also überall im Universum die gleichen physikalischen Gesetze gelten. Das ist vor allem in der Astrophysik und der Kosmologie ein wichtiges Prinzip, da wir von weit entfernten Himmelskörpern als einzige Informationsquelle das ankommende Licht haben. Durch das Wissen über Licht, das wir auf der Erde gewonnen haben, schließen wir auf Phänomene weit entfernt im Kosmos.
Ebenso gehen wir davon aus, dass alle Naturgesetze zeitunabhängig (engl. time invariant) sind. Also, dass sich die Form der physikalischen Gesetze und die Werte von Naturkonstanten mit der Zeit nicht ändern. Licht benötigt eine ganz bestimmte Zeit, um von einem Stern zu uns auf die Erde zu gelangen. Daher erhalten wir immer einen Blick auf die Vergangenheit. Wäre die Lichtgeschwindigkeit allerdings zeitlich nicht konstant, würden wir zu völlig falschen Schlussfolgerungen über die Prozesse im Kosmos kommen.
2.2.6 Superposition
In vielen Bereichen der Physik überlagern sich gleiche physikalische Größen ungestört. Treten mehrere von ihnen also gleichzeitig auf, dann beeinflussen sie sich gegenseitig nicht. Dieses Prinzip wird allgemein als Superposition (engl. superposition) genannt. In Bild 2.11 siehst du anschauliches Beispiel von Superposition. Die beiden Bilder zu unterschiedlichen Belichtungszeiten überlagern sich ungestört.
Zeigt eine physikalische Größe bei der Überlagerung, dass hier das Superpositionsprinzip gilt, wird die mathematische Beschreibung besonders einfach. In diesem Fall lässt sich die Endgröße einfach als (Vektor-)Summe der Einzelgrößen berechnen.
Beispiele für das Superpositionsprinzip findest du in der Bewegungslehre, bei Kräften oder bei der Überlagerung von Schwingungen und Wellen.