17.10 Kräfte aus quantenmechanischer Sicht

Der Large Hadron Collider am europäischen Kernforschungszentrum ist einer der leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt (Bild 17.94). Über 10.000 Personen aus über 100 Staaten sind bei diesem internationalen Großprojekt beteiligt.

Teilchendetektor am Large Hadron Collider (LHC) am CERN

Bild 17.94: Teilchendetektor am Large Hadron Collider (LHC) am CERN

Und wozu dieser Mega-Aufwand? Mit diesen riesigen Maschinen hoffen wir die noch offenen Fragen zum Aufbau der Materie und den Kräften in der Natur beantworten zu können. So konnte zum Beispiel 2012 das Higgs-Teilchen – nachdem es 35 Jahre zuvor vorhergesagt wurde – tatsächlich nachgewiesen werden.

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17.10.1 Quantenfeldtheorie

Die Beschreibung von Kräften durch Felder ist extrem erfolgreich. Die Maxwell-Gleichungen beschreiben das elektromagnetische Feld und auch die Relativitätstheorie verwendet Feldgleichungen, um die Gravitationskraft zu beschreiben. Da schien es nur naheliegend, dass auch in der Quantenmechanik ein Feldkonzept für die Beschreibung von Kräften verwendet wird. Die Quantenfeldtheorie (QFT) (engl. quantum field theory) hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Feldkonzept der klassischen Physik für die Beschreibung der Wechselwirkung von Quantenobjekten anzupassen.

In der Quantenmechanik werden Objekte nicht mehr durch Ort und Impuls, sondern durch sogenannte Wellenfunktionen \(\psi (x,y,z,t)\) beschrieben. Da zu jedem Zeitpunkt ein Wert an jedem Raumpunkt angegeben werden kann, erfüllt eine Wellenfunktion ebenfalls das Kriterium für ein Feld. Alle Wellen \(\psi (x,y,z,t)\) besitzen nach den Gesetzen der Quantenmechanik auch Teilcheneigenschaften wie Masse oder Spin. Diese Feldquanten werden daher auch als Wechselwirkungs„teilchen“ (Eichbosonen) bezeichnet.

Nach der Vorstellung der QFT sind diese Teilchen angeregte Zustände der ihnen zugrunde liegenden Quantenfelder, die fundamentaler sind als die Teilchen selbst. Diese fundamentalen Felder sind aber nicht direkt messbar. Nur die sich aus ihnen ergebenden Größen wie Ladungen, Energien oder Geschwindigkeit können gemessen werden. Jetzt ist es so, dass unterschiedliche Beschreibungen („Konfigurationen“) desselben unbeobachtbaren Feldes zu gleichen Werten bei den beobachtbaren Größen führen. Eine Transformation von einer solchen Feldkonfiguration in eine andere wird als Eichtransformation (engl. gauge transformation) bezeichnet. Ändern sich die Werte der beobachtbaren Größen unter einer Eichtransformation nicht, werden die Felder als eichinvariant (engl. gauge invariance) bezeichnet. Da jede Invarianz unter einer Transformation als „Symmetrie“ betrachtet werden kann, wird eine eichinvariante Transformation auch als Eichsymmetrie (engl. gauge symmetry) bezeichnet.

Im Kapitel über Elektrizität hast du das elektrische Feld E und das elektrische Potenzialfeld \(\phi\) kennengelernt. Während sich das elektrische Vektorfeld über die Kraft messen lässt, ist das Potenzialfeld prinzipiell unbeobachtbar. Außerdem sind nur Potenzial-Differenzen physikalisch bedeutsam. Addierst du zum Potenzial eine konstante Zahl, würde sich an den beobachtbaren elektrischen Größen nichts ändern – der Nullpunkt bei einem Potenzialfeld ist beliebig wählbar. Der Umstand, dass die additive Konstante im Potenzial frei wählbar ist (wie ein beliebiger Maßstab „geeicht“ werden kann), brachte Hermann Weyl dazu, die Begriffe Eichtransformation, Eichinvarianz und Eichsymmetrie zu verwenden.

Zurzeit lassen sich mit diesem angepassten Feldkonzept alle fundamentalen Wechselwirkungen mit Ausnahme der Gravitation sehr genau vorhersagen.

17.10.2 Eichbosonen

In der Teilchenphysik wird die Kraftübertragung von einem Teilchen auf ein anderes durch den Austausch von Wechselwirkungsteilchen (Eichbosonen, engl. gauge bosons) beschrieben. Jede Kraft hat ihr eigenes Austauschteilchen:

Wechselwirkung relative Stärke Reichweite Austauschteilchen Masse Spin
Stark \(1\) \(\approx10^{-15}\) Gluonen \(\approx0\) 1
Elektromagentisch \(10^{-2}\) \(\infty\) Photon 0 1
Schwach \(10^{-13}\) \(\approx10^{-17}\) Z-,W-Bosonen \(>80\;\mathrm{GeV}\) 1
Gravitation \(10^{-39}\) \(\infty\) Graviton (hypothetisch) 0 2

In der Tabelle kannst du erkennen: je größer die Masse des Austauschteilchens, desto geringer die Reichweite der Kraft.

Es ist leicht zu verstehen, wie der Austausch von Teilchen eine abstoßende Kraft erzeugt: Stell dir zwei Personen vor, die einander einen schweren Ball gegenseitig zuspielen. Jedes Mal, wenn eine der beiden den Ball fängt, spürt sie einen Kraftstoß. Im Rahmen der Quantenmechanik können auch anziehende Kräfte durch Austauschteilchen beschrieben werden, allerdings gibt es dafür keinen so anschaulichen Vergleich mehr.

17.10.3 Virtuelle Teilchen

Bei den Austauschteilchen handelt es sich nicht um normale Teilchen, sondern um sogenannte virtuelle Teilchen. Diese sind weder sichtbar noch direkt messbar – sie machen sich nur durch ihre Wechselwirkung bemerkbar. Du kannst dir den virtuellen Zustand eines Teilchens am ehesten als einen kurzlebigen Zwischenzustand vorstellen, der nur während einer Wechselwirkung zweier Teilchen auftritt.

Aber wie kann ein Elektron ständig virtuelle Photonen aussenden, ohne Masse oder Energie zu verlieren? Nach der Heisenbergsche Unschärferelation gilt: Um ein Photon der Energie \(E\) messen zu können, muss es mindestens für die Dauer von \(\Delta t\) lang existieren, wobei \(\Delta t\cdot E\approx h/2\pi\) gilt. Für ein grünes Photon mit der Energie \(2\;\mathrm{eV}\) sind das rund \(10^{-15}\;\mathrm{s}\). Virtuelle Photonen existieren nur so lange, wie es das Unschärfeprinzip zulässt, ohne dass sie nachgewiesen werden können. Trifft das virtuelle Photon innerhalb dieser Zeit auf eine andere Ladung, wird es von dieser absorbiert. Andernfalls gehen Energie und Impuls des virtuellen Photons wieder auf die aussendende Ladung zurück.

Je weniger Energie das virtuelle Photon hat, desto länger kann es existieren und desto weiter kann es sich daher fortbewegen. Die Energie des Photons hängt nur von seiner Frequenz ab und die kann beliebig klein sein. Dies ist einerseits der Grund dafür, dass die elektrische Kraft zwischen Ladungen mit der Entfernung abnimmt und andererseits die Reichweite unbegrenzt ist.

Daraus ergibt sich auch noch eine andere interessante Folge: Das reine Vakuum ist gar nicht so leer, wie du dir vielleicht bisher vorgestellt hast. Nach der Quantenfeldtheorie treten an jedem Ort im Universum ständig Quantenfluktuationen auf (Vakuumfluktuationen) , also entstehen aus dem Nichts virtuelle Teilchen und verschwinden nach kürzester Zeit wieder.

17.10.4 Elektrische Kraft

Die elektrische Kraft wirkt zwischen elektrischen Ladungen. Die Kraftübertragung erfolgt durch (virtuelle) Photonen. Da ihre Masse null ist, hat die elektrische Kraft unendliche Reichweite. Da Photonen selbst keine elektrische Ladung besitzen, wird die Ladung der Wechselwirkungspartner nicht verändert. Der Zweig der Quantenphysik, der sich mit der elektrischen Wechselwirkung beschäftigt, heißt Quantenelektrodynamik (QED).

17.10.5 Starke Wechselwirkung

Die Starke Kraft oder Starke Wechselwirkung (auch Farbkraft, engl. strong nuclear force) wirkt zwischen Quarks und damit auch zwischen allen Teilchen, die aus Quarks bestehen (Hadronen). Insbesondere ist sie damit für die Bindung zwischen Nukleonen (zwischen Neutronen und Protonen) im Atomkern verantwortlich. Die Kraftübertragung erfolgt durch Gluonen. Der Name leitet sich vom englischen Begriff glue für Klebstoff her. Die starke Kraft hat theoretisch unbegrenzte Reichweite, da Gluonen keine Masse haben. Alle aus Quarks gebildeten Teilchen sind farbneutral. Somit wirkt die starke Kraft praktisch nur im Inneren von Hadronen und ist auf eine Reichweite von etwa \(10^{-15}\;\mathrm{m}\) begrenzt.

Gluonen mit ihren Farbladung

Bild 17.95: Gluonen mit ihren Farbladung

Nach der Quantenchromodynamik QCD gibt es acht Gluonen, die alle masselos sind und Spin 1 haben. Sechs der Gluonen besitzen eine Farbladung, die sich immer aus einer „Farbe“ und einer „Antifarbe“ zusammensetzt (Bild 17.95). Zwei weitere sind dagegen „farblos“ (Bild 17.95).

In der Animation 17.96 siehst du als Beispiel die Wechselwirkung innerhalb eines Neutrons. Die Gluonen sind dargestellt als Punkte mit der Farbladung im Zentrum und der Antifarbe am Rand. Zum Beispiel stößt ein grünes up-Quark ein grün/anti-rotes Gluon aus und wird dadurch rot. Trifft dieses Gluon auf ein rotes down-Quark, wird seine Farbladung mit der anti-rot Farbladung des Gluons aufgehoben und übernimmt die verbleibende grüne Farbladung. Durch den Austausch eines Gluons ändert sich die Farbladung beider wechselwirkenden Quarks. Nur ein Austausch von „farblosen“ Gluonen ändert die Farbladung der beteiligten Quarks nicht.

Austausch von Gluonen zwischen den Quarks eines Neutrons

Bild 17.96: Austausch von Gluonen zwischen den Quarks eines Neutrons

Gluonen können aber auch direkt mit anderen Gluonen wechselwirken, sodass Teilchen existieren könnten, die nur aus Gluonen bestehen, die Glueballs.

17.10.6 Schwache Kraft

Die Schwache Kraft oder Schwache Wechselwirkung (engl. weak nuclear force) wirkt zwischen Leptonen, Quarks und Hadronen – also zwischen allen Teilchen bis auf Eichbosonen. Sie ist um Größenordnungen kleiner als die elektrische oder die starke Wechselwirkung. Treten diese Kräfte auf, ist die schwache Wechselwirkung vernachlässigbar. Sie zeigt sich daher besonders deutlich bei Neutrinos, weil sie weder eine elektrische Ladung noch eine Farbladung besitzen.

Die drei Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung sind das neutrale Z-Boson sowie ein positiv und ein negativ geladenes W-Boson. Alle Austauschteilchen der schwachen Kraft besitzen Masse, daher hat sie eine extrem kurze Reichweite unterhalb eines Atomkernradius (weniger als \(10^{-18}\;\mathrm{m}\)).

Die schwache Kraft kann keine gebundenen Systeme bilden. Im Gegenteil: Sie ist für den Zerfall von Hadronen und Leptonen verantwortlich. Das bekannteste Beispiel ist der Betazerfall, bei dem ein Neutron in ein Proton, ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino zerfällt.

17.10.7 Gravitationskraft

Die Gravitationskraft wirkt zwischen Massen. Die Kraftübertragung erfolgt durch Gravitonen. Da die Reichweite der Gravitationskraft – wie die der elektrischen Kraft – unbegrenzt ist, kann daraus geschlossenen werden, dass die Masse von Gravitonen ebenfalls null ist. Der eindeutige Nachweis einzelner Gravitonen erscheint aktuell nicht möglich. Die Wahrscheinlichkeit für die Wechselwirkung einzelner Gravitonen ist so gering, dass der Bau eines ausreichend großen Detektors unsere Möglichkeiten bei Weitem übersteigt.

Die quantenmechanische Theorie der Gravitation (Quantengravitation, kurz QG) befindet sich derzeit noch in der Entwicklung. Da die Gravitationskraft im Verhältnis zu den restlichen Kräften um Zehnerpotenzen kleiner ist, kann sie in der Teilchenphysik fast immer vernachlässigt werden.

17.10.8 Feynman-Diagramm

In der Teilchenphysik werden sogenannte Feynman-Diagramme für die abstrakte, bildliche Darstellung von Wechselwirkungen verwendet.

Für Feynman-Diagramm gelten folgende Regeln:

  • Wechselwirkungsteilchen werden als wellen- oder spiralförmige Linien dargestellt.
  • Alle anderen Teilchen werden als Pfeile in der Zeit dargestellt.
  • Anti-Teilchen sind durch Pfeile gegen die Zeitrichtung gekennzeichnet.
  • Aus der Pfeilrichtung kann nicht auf anziehende oder abstoßende Kräfte geschlossen werden!

Die Richtung der Zeitachse ist leider nicht einheitlich. In manchen Diagrammen verläuft sie von unten nach oben, in anderen von links nach rechts.

Feynman-Diagramm zur Elektron-Elektron Streuung

Bild 17.97: Feynman-Diagramm zur Elektron-Elektron Streuung

In Bild 17.97 siehst du das Feynman-Diagramm zur Wechselwirkung von zwei Elektronen durch den Austausch eines virtuellen Photons (\(\gamma\)). Die Zeitachse verläuft von links nach rechts.

Feynman-Diagramm für den Beta-Minus-Zerfall

Bild 17.98: Feynman-Diagramm für den Beta-Minus-Zerfall

In Bild 17.98 siehst du das Feynman-Diagramm für den Zerfall eines Neutrons in ein Proton (Beta-Zerfall). Das down-Quark im Neutron sendet ein \(\mathrm{W^-}\)-Boson aus und wird zu einem up-Quark – das ganze Teilchen zu einem Proton. Das \(\mathrm{W^-}\)-Boson kann wegen seiner großen Masse nicht lange bestehen und zerfällt in ein Elektron (\(\mathrm{e^-}\)) und ein Elektron-Anti-Neutrino (\(\mathrm{\bar{\nu}_e}\)). Beachte den Pfeil gegen die Zeitrichtung für das Anti-Teilchen.

17.10.9 Higgs Boson

Im Standardmodell werden Kräfte durch den Austausch von Eichbosonen beschrieben. Im Jahr 1964 wurde zum Standardmodell eine mathematisch konsistente Theorie entwickelt, die verlangte, dass alle Wechselwirkungsteilchen masselos sind. Die Experimente zeigen allerdings, dass die Wechselwirkungsteilchen der schwachen Kraft – die W- und Z-Bosonen – große Massen haben. In der Folge wurde eine Lösung für das Problem von theoretischen Physikerinnen und Physikern gefunden, die Brout-Englert-Higgs-Mechanismus genannt wird. Er beschreibt, wie die grundlegende Eigenschaft der Masse von Elementarteilchen zustande kommt. Nach dieser Theorie gibt es ein weiteres bisher unbekanntes Feld, das sogenannte Higgs-Feld. Die Masse von W- und Z-Bosonen, aber auch die Masse aller anderen (massebehafteten) Elementarteilchen wie Elektronen und Quarks, werden als Folge der Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld erklärt. Mit diesem Ansatz wurde es möglich, die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung als zwei verschieden starke Aspekte einer einzigen grundlegenden elektroschwachen Wechselwirkung zu beschreiben.

Das Higgs-Feld ist zwar nicht direkt messbar, aber die Theorie sagt voraus, dass bei großen Energien ein weiteres Elementarteilchen entsteht, das sogenannte Higgs-Teilchen. Bei Experimenten am CERN wurde 2012 ein neues Teilchen im Massenbereich von etwa \(125\;\mathrm{GeV}\) gefunden, dessen Eigenschaften mit denen des Higgs-Bosons übereinstimmten. 2013 erhielten François Englert und Peter Higgs, nachdem das neue Feld und das neue Teilchen benannt sind, für die Entwicklung des Higgs-Mechanismus den Nobelpreis.

17.10.10 Kopplungskonstante

Vielleicht hast du dich in der Übersicht über die Kräfte gewundert, wie die Werte für die relative Stärke zustande gekommen sind. Gravitation wirkt auf Massen, während die elektromagnetische Kraft nur auf elektrische Ladungen wirkt. Diese beiden Kräfte vergleichen zu wollen, scheint wie der Versuch, Äpfel mit Motorsägen zu vergleichen.

In der theoretischen Physik gelang es, die Wirkung der vier Grundkräfte mithilfe von dimensionslosen Faktoren, den sogenannten Kopplungskonstanten, zu formulieren. Ihre Werte sind ein Maß für die Größe der jeweiligen Kraftart. Diese Konstanten werden aus Messungen der Wahrscheinlichkeit einer Wechselwirkung bei der Begegnung zweier Teilchen ermittelt.

Trotz des Wortes „Konstante“ im Namen variieren ihre Werte bei der Wechselwirkung mit unterschiedlichen Teilchen leicht. Die Werte für die Kopplungskonstanten sind also nur Durchschnittswerte. Messungen ergeben für die Verhältnisse der Kopplungskonstanten:

\[\begin{equation} \textstyle\alpha_\mathrm{s}: \textstyle\alpha_\mathrm{em}: \textstyle\alpha_\mathrm{W}: \textstyle\alpha_\mathrm{G} =1:10^{-2}:10^{-13}:10^{-39} \tag{17.38} \end{equation}\]

Die starke Kraft ist danach rund 100-mal stärker als die elektromagnetische Kraft, \(10^{-13}\)-mal stärker als die schwache Kraft und \(10^{-39}\)-mal stärker als die Schwerkraft. Die Kopplungskonstante für die elektromagnetische Kraft \(\textstyle\alpha_\mathrm{em}\) wird auch Feinstrukturkonstante genannt.

17.10.11 Weltformel

Bei Experimenten der Hochenergiephysik zeigen die Kopplungskonstanten ein interessantes Verhalten. Bei sehr großen Energien nähern sich die Werte der Kopplungskonstante von schwacher Wechselwirkung und elektromagnetischer Wechselwirkung einander an (Bild 17.99).

Die Kopplungskonstanten \(\alpha\) der vier Grundkräfte als Funktion der Energie \(E\).

Bild 17.99: Die Kopplungskonstanten \(\alpha\) der vier Grundkräfte als Funktion der Energie \(E\).

In den 1960er-Jahren gelang es, die schwache und die elektromagnetische Wechselwirkung in einer Theorie zusammenzufassen. Laut dieser Theorie sind die beiden Kräfte nur zwei Aspekte einer einzigen grundlegenden Wechselwirkung (elektroschwachen Wechselwirkung, engl. electroweak interaction).

In Bild 17.99 kannst du sehen, dass auch die Kopplungskonstanten der anderen Wechselwirkungen eine ähnliche Tendenz bei großen Energien zeigen. Nach der Urknalltheorie (engl. big bang theory) war die Temperatur im Universum umso höher, je weiter die Zeit zurückgedreht wird, bis schließlich der Urknall erreicht wird. Im frühen Universum könnte es daher wirklich nur eine einzige Urkraft gegeben haben, die sich erst durch das allmähliche Abkühlen des Universums in die vier Grundkräfte, so wie wir sie heute kennen, aufgespalten hat.

Theoretische Physikerinnen und Physiker versuchen daher alle vier Grundkräfte durch einen einzigen mathematischen Formalismus zu beschreiben. Eine Theorie, die zusätzlich die starke Wechselwirkung beschreibt, wird große vereinheitlichte Theorie (engl. Grand Unified Theory oder kurz GUT) genannt. Eine Theorie, die sogar alle vier Grundkräfte vereint, wird Theorie von Allem oder Weltformel (engl. Theory of Everything, kurz TOE) genannt.

17.10.12 Stringtheorie

Das Standardmodell ist eine sehr erfolgreiche Theorie. Es bietet eine vollständige, korrekte, konsistente und elegante Beschreibung der bekannten Elementarteilchen und ihrer Wechselwirkungen. Das Standardmodell wurde durch zahlreiche Experimente bestätigt. Kein Experiment widerspricht ihm. Trotzdem sind nicht alle glücklich damit. Im Standardmodell sind zwar keine Fehler aufgetreten, aber viele Fragen bleiben unbeantwortet. Warum sind beispielsweise Top-Quarks etwa eine Billion Mal massereicher als Neutrinos? Was stabilisiert die Masse des Higgs-Bosons? Warum gibt es genau drei Gruppen von Fermionen? All das lässt sich nicht auf einige wenige Grundprinzipien zurückführen, sondern wirkt willkürlich.

Grundbausteine der Materie nach der String-Theorie

Bild 17.100: Grundbausteine der Materie nach der String-Theorie

Physikerinnen und Physiker sind also auf der Suche nach einer Erweiterung des Standardmodells, die diese Fragen beantworten können. Eine dieser Erweiterungen ist die Stringtheorie (engl. string theory). Darin besteht jedes Teilchen aus jeweils einem einzigen winzigen vibrierenden Energie-Faden (string). Alle Fäden sind gleich. Je nachdem wie der Faden schwingt, beobachten wir ein Elektron oder ein anderes Teilchen des Standardmodells. So wie jede Schwingung einer Gitarrensaite einem anderen Ton entspricht, entspricht jedes Schwingungsmuster eines strings einem anderen Teilchen (Bild 17.100).

17.10.13 M-Theorie

Zu Endes des 20. Jahrhunderts gab es schon fünf unterschiedliche Stringtheorien. Im Jahr 1995 sorgte Edward Witten für Aufsehen, als er bei einer Konferenz eine neue Theorie vorstellte, die er M-Theorie nannte. Dabei handelt es sich nicht um eine weitere String-Theorie, sondern um eine übergeordnete Theorie, die alle bisherigen String-Theorien und auch die Supergravitation (11d SUGRA) vereint (Bild 17.101).

M-Theorie als Verbindung der Stringtheorien (Type I, Type IIA, IIB, Hel E8 und Hel SO(32))

Bild 17.101: M-Theorie als Verbindung der Stringtheorien (Type I, Type IIA, IIB, Hel E8 und Hel SO(32))

Wie bei einem Ambigramm ergeben sich die unterschiedlichen String-Theorien, wenn die M-Theorie aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wird (Bild 17.102). Die M-Theorie ist ein Fortschritt, weil sich gewisse Probleme in einigen String-Theorien einfacher lösen lassen als in anderen. Mithilfe der „Übersetzungsregeln“ der M-Theorie (den sogenannten Dualitäten) lassen sich diese Probleme von einer String-Theorie in eine andere übertragen.

Beispiel für ein dreidimensionales Ambigramm

Bild 17.102: Beispiel für ein dreidimensionales Ambigramm

Das „M“ im Namen steht für Membran. Spezielle Membranen (sogenannte Branes) sind ein neues Konzept der M-Theorie. Dabei handelt es sich um zweidimensionale Objekte, die in einer höherdimensionalen Raumzeit existieren sollen. Branes können sowohl miteinander als auch mit Strings wechselwirken. Zum Beispiel können offene Strings an Branes enden und somit Kräfte übertragen.

Sowohl die String-Theorien als auch die M-Theorie sind Gegenstand aktueller Forschung. Sie alle versuchen, die Mängel des Standardmodells zu beheben und unsere Vorstellung von der Natur zu erweitern. Jede zukünftige Theorie muss aber nicht nur im Einklang mit allen bisherigen experimentellen Befunden sein. Überdies muss sie auch noch neue messbare Effekte vorhersagen, die im Experiment überprüft werden können – weder String-Theorien noch M-Theorie leisten das momentan. Es bleibt also spannend…

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