16.6 Relativistischer Impuls und Energie

In Bild 16.53 siehst du die wohl bekannteste Formel der Physik.

Die bekannteste Formel der Welt

Bild 16.53: Die bekannteste Formel der Welt

Diese Formel ist zu Recht so bekannt, denn ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass ihre Entdeckung durch Albert Einstein das Schicksal der Menschen nachhaltig geprägt hat.

In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit dem Zusammenhang von Energie und Impuls in der speziellen Relativitätstheorie. Du erfährst von der Ruheenergie, der Äquivalenz von Masse und Energie und der relativistischen kinetischen Energie.

16.6.1 Widerspruch zum klassischen Impuls

In Bild 16.54 (a) siehst du den Einschlag eines Projektils in einen Holzblock. Im Ruhesystem des Holzblocks wird die Projektil-Geschwindigkeit \(v_x\) gemessen und die Eindringtiefe \(s\). Die Eindringtiefe dient dabei als ein Maß für den Impuls des Projektils in x-Richtung.

Einschlag eine Projektils

Bild 16.54: Einschlag eine Projektils

In Bild 16.54 (b) siehst du dieselbe Situation aus einem andere Inertialsystem, das sich mit sehr großer Geschwindigkeit relativ senkrecht zu dem Holzblock bewegt. Da die waagrechte Geschwindigkeitsrichtung des Projektils \(v_x'\) normal auf die Bewegungsrichtung steht, ist die Länge der Einschlagtiefe nicht von der Lorentzkontraktion betroffen – in beiden Bezugssystemen wird die gleiche Einschlagtiefe gemessen (\(s'=s\)).

Aufgrund der Zeitdilatation ändert sich aber die Projektil-Geschwindigkeit. Im Bezugssystem (b) bewegt sich das Projektil mit einer kleineren Geschwindigkeit auf den Holzblock zu (\(v_x' < v_x\)). Das führt zu einem offensichtlichen Widerspruch. Wie kann dasselbe Projektil mit kleinerer waagrechter Geschwindigkeit eine gleich große Eindringtiefe erreichen?

Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch auszulösen:

  1. wir führen eine neue Definition der Masse ein, in der die Masse geschwindigkeitsabhängig ist, oder
  2. wir führen eine neue Impuls-Definition ein, bei der der Impuls nicht mehr linear von der Geschwindigkeit des Projektils abhängt!

In diesem Buch entscheiden wir uns für den zweiten Weg.

16.6.2 Relativistischer Impuls

Wie das Beispiel im letzten Abschnitt zeigt, führt der klassische Impuls in der speziellen Relativitätstheorie zu Widersprüchen. Wir führen daher ein:

Die Definition für den relativistischen Impuls lautet:

\[\begin{equation} p=\frac{m\cdot v}{{\displaystyle \sqrt {1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}}}} \tag{16.13} \end{equation}\]

Darin bedeuten:

  • \(p\), der relativistische Impuls (in \(\mathrm{\text{kg} \cdot \text{m/s}}\))
  • \(v\), die Geschwindigkeit des Körpers (in \(\mathrm{m/s}\))
  • \(m\), die Masse des Körpers (in \(\mathrm{kg}\))
  • \(c\), die Lichtgeschwindigkeit (\(3\cdot 10^{8}\;\mathrm{m/s}\))

oder in Kurzschreibweise:

\[ p=\gamma\cdot m\cdot v \]

Mit dieser neuen Definition des Impulses ist nicht nur der Impulserhaltungssatz, sondern auch das dynamische Grundgesetz in der Form Kraft als zeitliche Impulsänderung weiterhin gültig.

16.6.3 Energie-Impuls-Beziehung

Bei seinen Berechnungen stieß Albert Einstein auf eine Gleichung, die Masse, Impuls und Energie eines Körpers verknüpft. Sie wird Energie-Impuls-Beziehung (engl. energy-momentum relation) genannt und lautet (ohne Herleitung):

Relativistische Energie-Impuls-Beziehung:

\[\begin{equation} E^2 = p^2\cdot c^2+m^2\cdot c^4 \tag{16.14} \end{equation}\]

Darin bedeuten:

  • \(p\), der relativistischer Impuls (in \(\mathrm{\text{kg} \cdot \text{m/s}}\))
  • \(E\), die Gesamtenergie des Körpers (in \(\mathrm{J}\))
  • \(m\), die Masse des Körpers (in \(\mathrm{kg}\))
  • \(c\), die Lichtgeschwindigkeit (\(3\cdot 10^{8}\;\mathrm{m/s}\))

Die Energie-Impuls-Beziehung ist ebenso wie der Raum-Zeit-Abstand und die Masse eine invariante Größe. So messen Personen in ihren Inertialsystemen vielleicht ein anderes \(E\) und ein anderes \(p\) für einen Körper, je nachdem, wie schnell sie sich relativ zu ihm bewegen. Setzen sie ihre unterschiedlichen Werte aber in die Energie-Impuls-Beziehung ein, erhalten alle ein richtiges Ergebnis.

Einstein-Dreieck

Bild 16.55: Einstein-Dreieck

Du kannst die Energie-Impuls-Beziehung in einem rechtwinkligen Dreieck – mit der Gesamtenergie als Hypotenuse – darstellen, denn die Relation erfüllt den Satz des Pythagoras (Bild 16.55).

\[ (E)^2 = (p\cdot c)^2+(m\cdot c^2)^2 \]

16.6.4 Energie-Impuls-Beziehung Dimensionsbetrachtung

Auch wenn wir die Energie-Impuls-Beziehung hier nicht herleiten, wollen wir zumindest eine Dimensionsbetrachtung durchführen, um sie plausibel zu machen.

\[ \begin{aligned} {}[E]^2 = {} & [p]^2\cdot [c]^2+[m]^2\cdot [c]^4 \\ {}[E]^2 = {} & [m]^2\cdot [v]^2\cdot [c]^2+[m]^2\cdot [c]^4 \\ {}\mathrm{J}^2 = {} & \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^2}{s^2}\cdot \frac{\mathrm{m}^2}{s^2}+\mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} \\ {}\mathrm{J}^2 = {} & \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^2}{s^2}\cdot \frac{\mathrm{m}^2}{s^2}+\mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} \\ {}\mathrm{J}^2 = {} & \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4}+\mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} \\ {}\mathrm{J}^2 = {} & 2\cdot\left(\mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4}\right) \\ \end{aligned} \]

Der Faktor 2 spielt bei einer Dimensionsbetrachtung keine Rolle und kann weggelassen werden. Setzen wir die Definition der Einheit Joule ein, erhalten wir

\[ \begin{aligned} {}\mathrm{J}^2 = {} & \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} \\ \left(\mathrm{kg}\cdot \frac{\mathrm{m}^2}{s^2}\right)^2 = {} & \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} \\ \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} = {} & \mathrm{kg}^2\cdot \frac{\mathrm{m}^4}{s^4} \\ \end{aligned} \]

Links und rechts des Gleichheitszeichens stehen dieselben Einheiten. Damit ist die dimensionsmäßige Korrektheit der Energie-Impuls-Beziehung gezeigt.

16.6.5 Gesamtenergie

Die Energie-Impuls-Beziehung ist bereits eine Formel für Berechnung der Gesamtenergie eines Körpers in der speziellen Relativitätstheorie. Durch etwas mathematisches Geschick lässt sich die Gesamtenergie auch mithilfe des Lorentzfaktors ausdrücken (siehe Herleitung):

Relativistische Gesamtenergie:

\[\begin{equation} E=\frac{m\cdot c^2}{{\displaystyle \sqrt {1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}}}} \tag{16.15} \end{equation}\]

Mit den Größen

  • \(E\), die Gesamtenergie des Körpers (in \(\mathrm{J}\))
  • \(m\), die Masse des Körpers (in \(\mathrm{kg}\))
  • \(v\), die Geschwindigkeit des Körpers (in \(\mathrm{m/s}\))
  • \(c\), die Lichtgeschwindigkeit (\(3\cdot 10^{8}\;\mathrm{m/s}\))

oder in Kurzschreibweise:

\[\begin{equation} E = \gamma \cdot m\cdot c^2 \tag{16.16} \end{equation}\]

16.6.6 Herleitung der Gesamtenergie aus der Energie-Impuls-Beziehung

Im ersten Schritt stellen wir den Lorentzfaktor so um, dass das Geschwindigkeitsquadrat \(v^2\) explizit wird.

\[ \begin{aligned} \gamma = {} & \frac{1}{{\displaystyle \sqrt {1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}}}} &&\qquad\Bigr\rvert\;(\ldots)^2 \\ \gamma^2 = {} & \frac{1^2}{{\displaystyle 1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}}} &&\qquad\Bigr\rvert\cdot (1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}) \\ \gamma^2\cdot (1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}) = {} & 1 \\ \gamma^2-{\frac {\gamma^2\cdot v^{2}}{c^{2}}} = {} & 1 &&\qquad\Bigr\rvert\cdot c^2 \\ \gamma^2\cdot c^2-\gamma^2\cdot v^{2} = {} & c^2 &&\qquad\Bigr\rvert\;-\gamma^2\cdot c^2 \\ -\gamma^2\cdot v^{2} = {} & c^2 -\gamma^2\cdot c^2 &&\qquad\Bigr\rvert\cdot(-1) \\ \gamma^2\cdot v^{2} = {} & \gamma^2\cdot c^2 - c^2 \\ \gamma^2\cdot v^{2} = {} & (\gamma^2 - 1)\cdot c^2 &&\qquad\Bigr\rvert\cdot \frac{1}{\gamma^2}\\ v^{2} = {} & \frac{\gamma^2 - 1}{\gamma^2}\cdot c^2\\ \end{aligned} \]

In der Energie-Impuls-Beziehung setzen wir zunächst die Definition des relativistischen Impulses ein:

\[ \begin{aligned} E^2 = {} & p^2\cdot c^2+m^2\cdot c^4 &&\qquad\Bigr\rvert\;p=\gamma\cdot m\cdot v\\ = {} & (\gamma\cdot m\cdot v)^2\cdot c^2+m^2\cdot c^4 \\ = {} & \gamma^2\cdot m^2\cdot v^2\cdot c^2+m^2\cdot c^4 &&\qquad\Bigr\rvert\;v^{2} = \frac{\gamma^2 - 1}{\gamma^2}\cdot c^2\\ = {} & \gamma^2\cdot m^2\cdot \left(\frac{\gamma^2 - 1}{\gamma^2}\cdot c^2\right)\cdot c^2+m^2\cdot c^4 \\ = {} & m^2\cdot (\gamma^2 - 1)\cdot c^4+m^2\cdot c^4 \\ = {} & m^2\cdot\gamma^2\cdot c^4 - m^2\cdot c^4+m^2\cdot c^4 \\ = {} & m^2\cdot\gamma^2\cdot c^4 \\ \end{aligned} \]

Ziehen wir daraus die Wurzel, erhalten wir die gesuchte Gleichung für die relativistische Gesamtenergie

\[ E = \gamma \cdot m\cdot c^2 \]

16.6.7 Ruheenergie

Für einen ruhenden Körper ist der Impuls gleich null und das Einstein-Dreieck entartet zu einer Strecke (Bild 16.56).

Einstein-Dreieck für ruhende Teilchen

Bild 16.56: Einstein-Dreieck für ruhende Teilchen

Aus der Energie-Impuls-Beziehung folgt daher, dass selbst eine ruhende Masse eine Energie besitzt. Diese Energie wird Ruheenergie \(E_0\) (engl. rest energy) genannt.

\[\begin{equation} E_0 = m\cdot c^2 \tag{16.17} \end{equation}\]

16.6.8 Äquivalenz von Masse und Energie

Die Formel für die Ruheenergie erhielt Einstein zunächst nur als Folge seiner Ableitungen. Er hielt es zunächst nur für eine zahlenmäßige Gleichheit. Erst in den darauf folgenden Jahrzehnten sollte sich herausstellen, dass sich Masse und Energie tatsächlich ineinander umwandeln lassen und Masse nichts anderes ist als eine weitere Form von Energie. Diese Masse-Energie-Äquivalenz (engl. mass-energy equivalence) hat weitreichende Folgen.

Fügst du zum Beispiel einem Körper Energie zu, ohne seinen Bewegungszustand zu verändern, erhöht sich seine Masse. Daraus folgt zum Beispiel, dass

  • ein geladenes Smartphone eine größere Masse als ein entladenes,
  • eine gespannte Spiralfeder eine größere Masse als eine entspannte und
  • ein heißer Körper eine größere Masse als bei niedriger Temperatur

besitzt. Unvorstellbar, oder? Warum haben wir das nicht schon viel früher festgestellt? Das liegt an dem unglaublich großen Proportionalitätsfaktor \(c^2\) (\(1:10^{16}\)). Bei alltäglichen Energiemengen ist die Änderung der Masse unmessbar klein.

Das gilt aber natürlich auch in umgekehrter Richtung. Wandeln wir ein wenig Masse eines ruhenden Körpers in Energie um, erhalten wir ungeheure Mengen Energie. Das ist das Prinzip der Kernfusion und der Kernspaltung.

Die endgültige Äquivalenz von Masse und Energie zeigt uns die Paarvernichtung, bei der die Masse von zwei Teilchen vollständig in Energie umgewandelt wird und bei der Paarbildung, bei der zwei Teilchen mit Masse aus Energie erzeugt werden.

Da Masse eine weitere Form von Energie ist, muss der Energieerhaltungssatz um die Masse erweitert werden. Streng genommen gibt keinen Masse-Erhaltungssatz. Stattdessen gilt der Masse-Energie-Erhaltungssatz.

Die Masse eines Körpers hängt nicht nur von seinen Teilchen, sondern auch von deren Verbindung untereinander ab. Die Vorstellung von Masse als „die Menge der in einem Körper enthaltenen Materie“ verliert außerhalb der klassischen Physik ihre Gültigkeit.

16.6.9 Relativistische kinetische Energie

Unter der kinetischen Energie eines Körpers verstehen wir die Energie, die ein Körper aufgrund seines Bewegungszustandes besitzt. Wir erhalten also den Ausdruck für die relativistische kinetische Energie (engl. relativistic kinetic energy), wenn wir von der Gesamtenergie die Ruheenergie abziehen, also jene Energie, die ein Körper auch ganz ohne Bewegung besitzt.

\[ \begin{aligned} E_\textrm{KIN}= {} & \gamma \cdot m\cdot c^2 - m\cdot c^2 \\ = {} & (\gamma -1)\cdot m\cdot c^2 \\ \end{aligned} \]

Oder ausgeschrieben:

\[\begin{equation} E_\textrm{KIN}= \left(\frac{1}{{\sqrt {1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}}}} -1\right)\cdot m\cdot c^2 \tag{16.18} \end{equation}\]

In Bild 16.57 siehst du den Kurvenverlauf für die klassische kinetische Energie eines Körpers mit der Formel \(E_\textrm{KIN}=m\cdot v^2/2\) im Vergleich zum Kurvenverlauf der relativistischen kinetischen Energie.

Relativistische und klassische kinetische Energie im Vergleich

Bild 16.57: Relativistische und klassische kinetische Energie im Vergleich

Anders als in der klassischen Physik strebt die Arbeit, die benötigt wird, um einen Körper zu beschleunigen, gegen unendlich, wenn sich seine Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit nähert. Es ist also unmöglich, ein Objekt über diese Grenze zu beschleunigen.

Einstein-Dreieck mit Kinetischer Energie

Bild 16.58: Einstein-Dreieck mit Kinetischer Energie

Die Unmöglichkeit der Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit lässt sich auch am „Einstein-Dreieck“ erkennen (Bild 16.58). Bilden wir das Verhältnis der beiden Seiten \(p\cdot c/E\) und setzen die Formel für den relativistischen Impuls und die Gesamtenergie ein, erhalten wir

\[\begin{equation} \frac{p\cdot c}{E}= \frac{(\gamma\cdot m\cdot v)\cdot c}{(\gamma\cdot m\cdot c^2)}= \frac{\cancel{\gamma\cdot m\cdot c}\cdot v}{\cancel{\gamma\cdot m\cdot c}\cdot c}= \frac{v}{c} \tag{16.19} \end{equation}\]

Das Verhältnis \(v/c\) entspricht also dem Verhältnis der Seiten \(p\cdot c/E\) im Einstein-Dreieck. Du erkennst: Je größer die Geschwindigkeit, desto größer wird die Länge der Kathete. Aber egal wie lang die Kathete auch wird, sie kann niemals länger als die Hypotenuse des Dreiecks werden.

16.6.10 Korrespondenzprinzip am Beispiel der relativistischen kinetischen Energie

Jede neue physikalische Theorie muss die Gleichungen einer früheren Theorie so erweitern, dass sie im Einklang mit allen bisherigen Experimenten steht. Dieses Prinzip der Erweiterung der Beschreibung der Natur wird Korrespondenzprinzip (engl. correspondence principle) genannt und wird uns auch in der Quantenmechanik begegnen.

Alle Gleichungen der speziellen Relativitätstheorie müssen also für den Fall von kleinen Geschwindigkeiten (im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit) zu den Gleichungen der klassischen Physik führen. Für die Zeitdilatation, die Lorentzkontraktion und den relativistischen Impuls ist das leicht einzusehen: Für kleine Geschwindigkeiten wird der Lorentzfaktor eins und die Größen entsprechen denen der klassischen Physik. Bei der relativistischen kinetischen Energie ist das nicht so offensichtlich.

Der Ausdruck \(1/\sqrt{1-x}\) im Lorentzfaktor lässt sich durch ein Polynom beliebig genau annähern (Taylor-Reihen-Entwicklung). Es lautet:

\[\begin{equation} \frac{1}{\sqrt{1-x}}=1+{\frac {1}{2}}x+{\frac {3}{8}}x^{2}+{\frac {5}{16}}x^{3}+\ldots \tag{16.20} \end{equation}\]

Und mit \(x=v^2/c^2\):

\[ \begin{aligned} \frac{1}{\sqrt{1-\frac{v^2}{c^2}}} = {} & 1+{\frac {1}{2}}\cdot \frac{v^2}{c^2}+{\frac {3}{8}}\cdot \left(\frac{v^2}{c^2}\right)^2+{\frac {5}{16}}\cdot \left(\frac{v^2}{c^2}\right)^3+\ldots \\ \frac{1}{\sqrt{1-\frac{v^2}{c^2}}} = {} & 1+{\frac {1}{2}}\cdot \frac{v^2}{c^2}+{\frac {3}{8}}\cdot \frac{v^4}{c^4}+{\frac {5}{16}}\cdot \frac{v^6}{c^6}+\ldots \\ \end{aligned} \]

Setzen wir dieses Polynom in die Formel für die relativistische kinetische Energie ein, erhalten wir

\[ \begin{aligned} E_\textrm{KIN} = {} & m\cdot c^2\cdot\frac{1}{{\sqrt {1-{\frac {v^{2}}{c^{2}}}}}} -m\cdot c^2 \\ = {} & m\cdot c^2\cdot\left(1+{\frac {1}{2}}\cdot\frac {v^{2}}{c^{2}}+{\frac {3}{8}}\cdot\frac {v^{4}}{c^{4}}+{\frac {5}{16}}\cdot\frac {v^{6}}{c^{6}}+\ldots\right) -m\cdot c^2 \\ = {} & m\cdot c^2\cdot\left({\frac {1}{2}}\cdot\frac {v^{2}}{c^{2}}+{\frac {3}{8}}\cdot\frac {v^{4}}{c^{4}}+{\frac {5}{16}}\cdot\frac {v^{6}}{c^{6}}+\ldots\right) \\ = {} & {\frac {1}{2}}\cdot m\cdot v^{2}+{\frac {3}{8}}\cdot\frac {m\cdot v^{4}}{c^{2}}+{\frac {5}{16}}\cdot\frac {m\cdot v^{6}}{c^{4}}+\ldots \\ \end{aligned} \]

Ab dem zweiten Summanden steht die Lichtgeschwindigkeit im Nenner. Für alltägliche Geschwindigkeiten (wesentlich kleiner als die Lichtgeschwindigkeit) leisten diese Summanden keinen nennenswerten Beitrag und wir erhalten die Formel für die kinetische Energie der klassischen Physik

\[ E_\textrm{KIN} = {\frac {1}{2}}\cdot m\cdot v^{2} \qquad (\text{für } v \ll c) \]

16.6.11 Masselose Teilchen

Betrachten wir das Einstein-Dreieck für ein Photon. Nach Gleichung (16.19) entspricht das Verhältnis \(v/c\) dem Verhältnis der Seiten \(p\cdot c/E\) im Einstein-Dreieck. Lichtteilchen bewegen sich immer mit Lichtgeschwindigkeit. Damit müssen Hypotenuse und Kathete dieselbe Länge haben – das ist nur möglich, wenn das Dreieck zu einer Strecke entartet (Bild 16.59).

Einstein-Dreieck für ein Photon

Bild 16.59: Einstein-Dreieck für ein Photon

Aus dem Dreieck folgt, dass ein Photon ein masseloses Teilchen (engl. massless particle) ist, aber trotzdem einen Impuls besitzt. Er beträgt:

\[\begin{equation} p = \frac{E}{c} \tag{16.21} \end{equation}\]

Für masselose Teilchen (wie Photonen oder Gravitonen) sind die Gleichungen der klassischen Mechanik wie zum Beispiel für Impuls oder kinetische Energie vollkommen unbrauchbar. Einsteins Gleichungen hingegen liefern nicht nur endliche Werte, sondern stimmen auch mit allen Experimenten überein!

16.6.12 Dynamische Masse

Wir haben am Anfang des Kapitels kurz erwähnt, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gibt, den Widerspruch zum klassischen Impuls auszulösen. In vielen Artikeln und auch in Schulbüchern findest du den Begriff der dynamischen Masse oder auch relativistischen Masse. Daher wollen wir in diesem Abschnitt kurz darauf eingehen.

Die Formel für den relativistischen Impuls lautet:

\[ p=\gamma\cdot m\cdot v \]

Definieren wir die Größe der relativistischen Masse \(m_{rel}\) mit

\[\begin{equation} m_{rel} = \gamma\cdot m \tag{16.22} \end{equation}\]

können wir die Formel für den Impuls der klassischen Physik auch in der relativistischen Physik weiter verwenden – wir müssen nur die Masse durch die dynamische Masse ersetzen.

\[ p=m_{rel}\cdot v \]

Die Masse \(m\) aus der klassischen Physik wird dann Ruhemasse \(m_0\) genannt, um sie von der relativistischen Masse zu unterscheiden. Findest du in diesem Buch den Begriff „Masse“ oder „\(m\)“ ohne einen Zusatz, ist immer die Ruhemasse des Körpers gemeint – also die der Ruheenergie äquivalente Masse.

Durch das Einführen der relativistischen Masse bleibt die Vorstellung der klassischen Physik von Masse als „Widerstand gegen Änderungen des Bewegungszustandes“ erhalten. Wächst die relativistische Masse eines Körpers mit der Geschwindigkeit, wird es anschaulich immer schwieriger, seine Geschwindigkeit noch weiter zu erhöhen.

Viele Gleichungen der klassischen Physik liefern aber falsche Ergebnisse, wenn statt der Masse \(m\) die relativistische Masse \(m_{rel}\) eingesetzt wird. Immer wieder stellte Einstein Überlegungen an, ob es sinnvoll ist, den Begriff der dynamischen Masse zu verwenden. Letzten Endes hat er darauf verzichtet.