17.9 Standardmodell der Elementarteilchenphysik
Im Abschnitt über Atome hast du schon einiges über Protonen, Neutronen und Elektronen erfahren. Im Abschnitt Beta-Zerfall hast du von Positronen erfahren und auch Lichtteilchen (Photonen) kennst du schon.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in der kosmischen Strahlung mithilfe von Blasenkammer-Aufnahmen wie der in Bild 17.85 Spuren von bis dahin unbekannten „Teilchen“ (eigentlich Quantenobjekte) gefunden. Ab den 1940er-Jahren wurden Protonen und Elektronen in Beschleuniger-Experimenten mit immer größeren Geschwindigkeiten gegen Atome oder auch gegeneinander geschossen und noch viel mehr unbekannte Teilchen kamen zum Vorschein.
In diesem Kapitel erfährst du von diesen Teilchen, in welche Gruppen sie sich einteilen lassen und welche von ihnen – nach unserem heutigen Erkenntnisstand – wirklich elementar sind.
17.9.1 Blasenkammer
Eine relativ einfache Vorrichtung, um die Spuren von Teilchen sichtbar zu machen, ist die Blasenkammer (engl. bubble chamber). In einer Kammer (Bild 17.86, 1) befindet sich eine klare, durchsichtige Flüssigkeit (häufig flüssiger Wasserstoff). Kurz vor dem Experiment wird der Druck in der Kammer stark verringert (2). Die Temperatur der Flüssigkeit befindet sich jetzt oberhalb des Siedepunktes. Es fehlen allerdings die Siedekeime, daher siedet sie noch nicht (Siedeverzug, überkritische Flüssigkeit). Dringen Teilchen – zum Beispiel von einem Teilchenbeschleuniger kommend – in die Kammer ein, ionisieren sie die Wasserstoffatome entlang ihrer Bahn und werden dabei abgebremst. Die Ionen entlang der Teilchenbahn dienen jetzt als Keime für die Bildung von Gasblasen (Siedekeime) und ihre Spuren werden sichtbar (3).
Zusätzlich durchdringt die Kammer ein Magnetfeld (4). Während elektrisch geladene Teilchen aufgrund der Lorentzkraft abgelenkt werden und eine Spiralbahn hinterlassen, besitzen elektrisch neutrale Teilchen eine gerade Bahn. Die Größe der Spiralbahn lässt Rückschlüsse auf das Verhältnis \(Q/m\) (Ladung zu Masse) des Teilchens zu und der Umlaufsinn verrät das Vorzeichen der Ladung. Hat das Magnetfeld die Richtung wie in Bild 17.86 gezeigt (in die Bildebene hinein), bewegen sich positiv geladene Teilchen auf eine Bahn gegen den Uhrzeigersinn (Krümmung nach links) und umgekehrt.
Ganz ähnlich funktioniert die Nebelkammer. Statt einer Flüssigkeit befindet sich übersättigter Dampf in der Kammer. Die Ionen entlang der Teilchenbahn dienen als Kondensationskeime und die Spuren werden als Kondensstreifen sichtbar.
17.9.2 Spin
Elektronen verhalten sich so, als ob sie sich um ihre eigene Achse drehen. Im Experiment zeigen sie ein Verhalten wie bei einem fixen Drehimpuls der Größe:
\[\begin{equation} \frac{1}{2}\cdot\frac{h}{2\pi} \tag{17.36} \end{equation}\]
Diese Eigenschaft wird Spin genannt. Diese Eigenschaft ist unveränderlich, auch wenn sich das Elektron außerhalb eines Atoms befindet. Außerdem ist sie unabhängig von einer eventuellen (linearen) Geschwindigkeit des Elektrons.
Aus der Spin-Eigenschaft folgt, dass sich ein Elektron – analog einer geladenen rotierenden Kugel – wie ein kleiner magnetischer Dipol verhält (Bild 17.87).
Der Spin ist aber kein klassischer Drehimpuls! Die Quantisierung in der quantenmechanischen Beschreibung gilt nicht nur für die Größe des Spins, sondern auch für seine Orientierung. Wenn zum Beispiel auf einen Elektronenstrahl ein schwaches Magnetfeld einwirkt, das nicht stark genug ist, um alle Spins zu zwingen, sich in die gleiche Richtung auszurichten, werden sich einige der Spins in Richtung des Magnetfeldes (parallel) anordnen und der Rest in genau der entgegengesetzten Richtung (antiparallel) – egal in welche Richtung das äußere Magnetfeld zeigt! Würden wir dasselbe Experiment mit „klassischen“ Mini-Stabmagneten durchführen, würden wir alle möglichen Richtungen relativ zum Feld zufällig verteilt finden.
Auch andere Teilchen haben eine Spin-Eigenschaft. Der Spin wird üblicherweise immer als Vielfaches der „Einheit“ \(h/2\pi\) angegeben. Der Spin des Elektrons wird daher als \(1/2\) angegeben. Ist \(s\) die Größe des Spins, gibt es insgesamt \(2\cdot s+1\) mögliche Ausrichtungen in einem äußeren Feld.
Spin | Ausrichtungen |
---|---|
1/2 | 2 |
1 | 3 |
3/2 | 4 |
… | … |
17.9.3 Stern-Gerlach-Versuch
Die Quantisierung der Spin-Richtung wurde erstmals 1922 von Otto Stern und Walther Gerlach experimentell nachgewiesen (Stern-Gerlach-Versuch). Den Versuchsaufbau siehst du in Bild 17.88.
Ein Strahl aus (elektrisch neutralen) Silberatomen durchfliegt ein inhomogenes Magnetfeld im Vakuum und trifft auf einem Schirm dahinter auf. Das Magnetfeld teilt den Strahl in zwei getrennte Teilstrahlen auf. Ein neutrales Silberatom besitzt insgesamt 47 Elektronen. Bis auf das \(5s\) Elektron heben sich aber alle anderen magnetischen Momente auf, sodass sich das gesamte Atom magnetisch wie ein einziges Elektron mit Spin-1/2 verhält.
Warum muss das Magnetfeld inhomogen sein? In einem homogenen Feld ist die Kraft auf beide Pole immer gleich groß, daher wird ein Dipol nur gedreht. In dem inhomogenen Magnetfeld in Bild 17.88 ist die Kraft auf den Südpol des Dipols stärker und führt zu einer Ablenkung – je nach Ausrichtung des Spins – nach oben oder unten.
Links:
17.9.4 Elementarteilchen
Durch Beschleuniger-Experimente haben die Physikerinnen und Physiker im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr als hundert unterschiedliche Teilchen gefunden – scherzhaft als „Teilchenzoo“ bezeichnet. Es stellte sich jedoch heraus, dass die meisten davon aus noch kleineren Bausteinen aufgebaut sind, also nicht elementar sind. Nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik (Bild 17.89) gibt es nur 17 tatsächliche Elementarteilchen.
Diese Elementarteilchen lassen sich in folgende Gruppen einteilen:
Sechs Leptonen: Kleine Elementarteilchen, die direkt beobachtbar sind. Den bekanntesten Vertreter der Gruppe kennst du schon, das Elektron.
Sechs Quarks: Diese Elementarteilchen sind nicht direkt beobachtbar! Sie kommen nur in Kombination mit anderen Quarks vor und bilden zum Beispiel das Proton oder das Neutron.
Vier Eichbosonen oder Austauschteilchen: Diese Teilchen sind für die Übertragung von Kräften zwischen Teilchen verantwortlich. Der bekannteste Vertreter dieser Gruppe ist das Photon. Es ist für die Übertragung der elektrischen Kraft verantwortlich.
Das Higgs-Teilchen: das neueste Mitglied im Standardmodell. Das hinter dem Higgs-Teilchen stehende Higgs-Feld verleiht allen Teilchen ihre Masse.
Beachte, dass manchmal alle Teilchen kleiner als ein Atom als „Elementarteilchen“ bezeichnet wird, auch solche, die aus anderen Teilchen aufgebaut sind, wie zum Beispiel das Neutron oder das Proton.
In den folgenden Abschnitten und im nächsten Kapitel erfährst du mehr über das Standardmodell und seine Untergruppen.
17.9.5 Leptonen
In der Teilchenphysik bezeichnet der Begriff Lepton (engl. lepton) eine Gruppe von Elementarteilchen mit halbzahligem Spin (Spin \(1/2\)), die nicht an der starken Wechselwirkung teilnehmen. Alle Leptonen sind außerdem Fermionen und müssen sich daher in einem gebundenen System durch mindestens eine Eigenschaft (Quantenzahl) unterscheiden.
Die eine Hälfte der Leptonen besitzen eine elektrische Ladung (\(-1e\)): das Elektron (\(\mathrm{e}\)), das Myon (\(\mathrm{\mu}\)) und das Tauon (\(\mathrm{\tau}\)). Nur das Elektron ist stabil, Myon und Tauon zerfallen nach kurzer Zeit in andere Teilchen. Alle geladenen Leptonen können mit anderen Teilchen Verbindungen eingehen.
Jedes geladene Lepton hat ein zugeordnetes ungeladenes Lepton, ein sogenanntes Neutrino (Verniedlichungsform von „Neutron“, neutrales Teilchen; bezeichnet mit dem griechischen Kleinbuchstaben Ny): Elektron-Neutrino (\(\mathrm{\nu_e}\)), Myon-Neutrino (\(\mathrm{\nu_\mu}\)) und Tauon-Neutrino (\(\mathrm{\nu_\tau}\)). Im Gegensatz zu den geladenen Leptonen wechselwirken Neutrinos kaum mit Materie und sind äußerst schwierig nachzuweisen. Immerhin gehen fast alle Neutrinos von der Sonne sogar ungehindert durch die gesamte Erde hindurch!
Der Name leitet sich von dem griechischen Wort leptós für „dünn, schmal, klein“ ab. Es soll darauf hindeuten, dass es nicht aus weiteren Teilchen aufgebaut ist. Nicht alle Leptonen sind „leicht“ – das Tauon ist rund doppelt so schwer wie ein Proton!
Zu jedem Lepton gibt es ein Anti-Teilchen: Anti-Elektron (oder Positron, \(\mathrm{e}^+\)), Anti-Myon (\(\overline{\mathrm{\mu}}\)), Anti-Tauon (\(\overline{\mathrm{\tau}}\)), Elektron-Antineutrino (\(\overline{\mathrm{\nu}}_\mathrm{e}\)), Myon-Antineutrino (\(\overline{\mathrm{\nu}}_\mathrm{\mu}\)) und Tauon-Antineutrino (\(\overline{\mathrm{\nu}}_\mathrm{\tau}\)). Anti-Teilchen werden üblicherweise mit einem Querstrich gekennzeichnet.
17.9.6 Quarks
Murray Gell-Mann (Nobelpreis 1969) und andere verglichen die Eigenschaften der bisher bekannten Teilchen und konnte teilweise ein Ordnungsprinzip dahinter entdecken. Nach dem Quarkmodell sind die meisten Teilchen einfach eine Kombination aus einigen wenigen Unterbausteinen – den Quarks.
Quarks haben als einzige Teilchen keine ganzzahlige Ladung. Von den sechs Quarks im Standardmodell haben drei eine Ladung von \(+2/3e\) (Up-Quark \(\mathrm{u}\), Charm-Quark \(\mathrm{c}\) und Top-Quark \(\mathrm{t}\)) und drei \(-1/3e\) (Down-Quark \(\mathrm{d}\), Strange-Quark \(\mathrm{s}\) und Bottom-Quark \(\mathrm{b}\)). Die unterschiedlichen Quark-Arten werden auch als „Quark-Flavours“ (Geschmacksrichtung) bezeichnet. Jedes der 6 Quarks hat einen Spin von \(1/2\). Zu jedem Quark gibt es ein Anti-Teilchen: Up-Antiquark (\(\overline{\mathrm{u}}\)), Down-Antiquark (\(\overline{\mathrm{d}}\)), Charm-Antiquark (\(\overline{\mathrm{c}}\)), Strange-Antiquark (\(\overline{\mathrm{s}}\)), Top-Antiquark (\(\overline{\mathrm{t}}\)) und Bottom-Antiquark (\(\overline{\mathrm{b}}\)).
Alle Quarks haben einen Spin von \(1/2\).
Beim Versuch, Teilchen, die aus Quarks bestehen (Hadronen) durch Beschuss mit Teilchen ausreichend großer Energie zu „zerschlagen“, binden sich die Quarks stets sofort zu neuen Hadronen. Einzelne freie Quarks konnten bisher nicht beobachtet werden.
17.9.7 Farbladung
Um zu beschreiben, welche Kombinationen von Quarks auftreten können, wurde die Eigenschaft der Farbladung (engl. color charge) eingeführt (Bild 17.90).
Der Name kommt von der Eigenschaft der additiven Farbmischung, bei der sowohl die Summe alle drei Primärfarben (Rot, Grün, Blau) als auch die Summe von Farbe und Komplementärfarbe (zum Beispiel Blau und Antiblau (Gelb)) eine unbunte Farbe ergeben – hier als „farblos“ bezeichnet. Er hat nichts mit der alltäglichen Bedeutung von „Farbe“ im optischen Sinne zu tun und ist lediglich eine praktische Analogie.
Zusätzlich zu allen anderen Eigenschaften (Ladung, Spin,…) hat jedes Quark noch eine Farbladung. Dabei gilt:
- Jedes der sechs Quarks besitzt eine von drei Farbladungen rot, grün oder blau (18 Kombinationen)
- Jedes der sechs Antiquarks besitzt eine von drei Anti-Farben antirot (türkis oder cyan), antigrün (purpurrot) oder antiblau (gelb) besitzen (ebenfalls 18 Kombinationen)
Alle Hadronen (Kombinationen aus Quarks) haben keine Farbladung mehr – die Kombination der Farbladungen ihrer Quarks ergibt immer „farblos“.
17.9.8 Hadronen
Alle Teilchen, die aus zwei oder mehr Quarks aufgebaut sind, werden als Hadronen (engl. hadrons) bezeichnet. Sie werden von der starken Wechselwirkung zusammengehalten. Ihr Name leitet sich vom griechischen Wort hadrós für „dick ‚stark“ ab.
Da jedes Quark einen Spin von \(1/2\) besitzt, werden bei Hadronen prinzipiell zwei Gruppen unterschieden:
Mesonen, sie bestehen aus zwei Quarks, haben ganzzahligen Spin und sind damit Bosonen.
Baryonen, sie bestehen aus drei Quarks, haben halbzahligen Spin und sind damit Fermionen.
Daneben gibt es noch sogenannte exotische Hadronen, die aus mehr als drei Quarks bestehen, wie zum Beispiel Tetraquarks und Pentaquarks.
17.9.9 Mesonen
Als Meson werden Teilchen bezeichnet, die jeweils aus zwei Quarks bestehen – einem Quark und einem Antiquark. Da jedes Quark einen Spin von \(1/2\) besitzt, haben alle Mesonen einen ganzzahligen Spin und sind damit Bosonen. Der Name leitet sich vom griechischen tó méson „das Mittlere“ ab. Alle Mesonen sind instabil!
In Bild 17.91 siehst du als Beispiel für ein Meson ein Pion. Es besteht aus einem Up-Quark (Ladung \(+2/3e\)) und einem Down-Antiquark (Ladung \(-(-1/3e)=+1/3e\)). Es hat daher eine Gesamtladung von \(+2/3e+1/3e=+e\) und ist damit positiv geladen.
17.9.10 Baryonen
Baryonen (engl. baryon) bestehen aus jeweils drei Quarks (oder als Antibaryonen aus jeweils drei Antiquarks). Alle Baryonen haben halbzahligen Spin und sind damit Fermionen – unterliegen also dem Paulischen Ausschließungsprinzip. Der Name leitet sich aus dem altgriechischen Wort barýs für „schwer“ oder „gewichtig“ her.
In Bild 17.92 siehst du das wohl bekannteste Baryon – das Proton. Es besteht aus zwei Up-Quarks und einem Down-Quark. Sein Spin ist \(1/2+1/2+1/2=3/2\) und seine Ladung \(+2/3+2/3-1/3=+1\). Das Proton ist das leichteste und einzig stabile Baryon.
In Bild 17.93 siehst du den Aufbau eines Neutrons. Es besteht aus einem Up-Quark und zwei Down-Quarks. Sein Spin ist damit ebenfalls \(1/2+1/2+1/2=3/2\), seine Ladung aber \(+2/3-1/3-1/3=0\) – also elektrisch neutral. Ein freies Neutron (nicht in einem Atomkern gebunden) ist instabil. Es zerfällt mit einer Halbwertszeit von rund 10 Minuten in ein Proton, ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino (Betazerfall).
17.9.11 Erhaltungssätze
Alle Erhaltungssätze aus der klassischen Physik (Energie, Impuls, Drehimpuls, elektrische Ladung) gelten auch in der Quantenphysik – mit Ausnahme der durch die Unschärferelation möglichen Abweichungen. Darüber hinaus gibt es in der Quantenphysik noch zusätzliche Erhaltungssätze wie die Baryonenzahl, die Leptonenzahl und noch weitere.
Als Beispiel betrachten wir die Erhaltung der Barionenzahl. Die Baryonenzahl, ist als die Differenz der Anzahl der Quarks und der Antiquarks, geteilt durch 3 definiert, also:
\[\begin{equation} B={\frac {n_{q}-n_{{\overline {q}}}}{3}} \tag{17.37} \end{equation}\]
Im Experiment zeigt sich, dass in einem abgeschlossenen System ist die Baryonenzahl stets konstant ist. Wir überprüfen die Erhaltung der Baryonenzahl anhand des Beta-Zerfalls, bei dem sich ein Neutron in ein Proton, Elektron und Neutrino umwandelt. Ein Neutron besteht aus drei Quarks (up, down, down) und die Baryonenzahl ist damit:
\[ B=\frac{n_{q}-n_{{\overline {q}}}}{3} =\frac{3-0}{3}=+1 \]
Ein Proton besteht ebenfalls aus drei Quarks (up, up, down), damit ist die Baryonenzahl auch \(+1\). Die weiteren Zerfallsprodukte (Elektron und Neutrino) sind Elementarteilchen und bestehen aus keinen Quarks ihre Baryonenzahl ist jeweils \(0\). Die Baryonenzahl ist somit vor und nach dem Zerfall gleich.
Aufgrund der Energieerhaltung können bei einem spontanen Zerfall nur leichtere Teilchen entstehen. Das leichteste Baryon, das Proton, muss daher stabil sein.