6.6 Anwendungen des Gravitationsgesetzes
In Bild 6.41 siehst du das Ringsystem des Planeten Saturn.
Es gibt unterschiedliche Theorien, wie die Ringe des Saturn entstanden sind. Es könnte sich zum Beispiel um die Überreste eines Mondes handeln, der durch die Gezeitenkräfte des Saturn auseinandergebrochen ist.
In diesem Abschnitt erfährst du unter anderem, wie es zu Gezeitenkräften kommt, welche Bahnkurve ein Satellit haben kann oder welche Flughöhe ein geostationärer Satellit haben muss.
6.6.1 Baryzentrum
Die wechselseitige Anziehung bewirkt, dass sich Körper unter dem Einfluss der Gravitation immer um einen gemeinsamen Schwerpunkt, das sogenannte Baryzentrum (engl. barycenter), bewegen. In Bild 6.42 siehst du zum Beispiel das Baryzentrum für zwei Körper mit einem Massenverhältnis von 1:3.
Damit bewegt sich – genau genommen – die Erde nicht um die Sonne (wie im ersten Keplerschen Gesetz behauptet), sondern beide um ihren gemeinsamen Schwerpunkt. In unserem Sonnensystem ist die Sonne im Verhältnis zu den Planeten allerdings so massereich, dass Sonnenmittelpunkt und Baryzentrum fast zusammenfallen. Bild 6.43 zeigt die Bewegung der Sonne, die durch die Gravitation aller Planeten hervorgerufen wird.
In einem Doppelstern-System haben beide Körper oft eine vergleichbare Masse und das Baryzentrum befindet sich in der Nähe der Mitte beider Himmelskörper.
6.6.2 Gezeitenkräfte
Der Meeresspiegel unterliegt täglichen Schwankungen, wie du im Bild 6.44 erkennen kannst.
Ebbe und Flut auf der Erde sind eine Folge der Gezeitenkräfte (engl. tidal forces) von Sonne und Mond. Je näher Massen beisammen sind und je größer ihre Ausdehnung ist, desto größer sind die Unterschiede in der Gravitationskraft an den unterschiedlichen Stellen der Körper (interaktives Bild 6.45).
Die roten Kraftpfeile entsprechen den Kräften, die auf die unterschiedlichen Stellen des Körpers durch die zweite Masse wirken. Ziehst du davon den schwarzen Kraftpfeil (Kraft auf den Mittelpunkt) ab, so erhältst du die blauen Kraftpfeile. Sie zeigen die Kräfte relativ zum Mittelpunkt des Körpers.
Die Gezeitenkräfte haben auf die feste Erde kaum einen Einfluss. Ganz anders als die Wassermassen. Hier bewirken die Gezeitenkräfte auf der Mond zu- und abgewandten Seite ein Anheben des Meeresspiegels (Flut) und normal dazu ein Absenken des Meeresspiegels (Ebbe).
Zusätzlich zum Mond wirken auf die Wassermassen auch Gezeitenkräfte von der Sonne. Stehen Sonne, Erde und Mond in einer Linie, verstärken sich die Gezeitenkräfte von Mond und Sonne (Springtide). Bilden Sonne, Erde und Mond einen rechten Winkel sind die Gezeitenkräfte am kleinsten (Nipptide).
Gezeitenkräfte können sogar so groß werden, dass sie ganze Planeten zerstört (Roche-Grenze).
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6.6.3 Kepler Bahnen
Besteht ein System aus genau zwei Massen (Zweikörperproblem), sind die Bahn-Formen immer Kegelschnittlinien (Keplerbahnen). Die möglichen Bahnen sind in Bild 6.46 dargestellt.
Je nach Anfangsgeschwindigkeit erhältst du für die Raumsonde keine Umlaufbahn (hypothetische Ellipse durch die Erde (a)), stabile Umlaufbahnen (Kreis (c) und Ellipse (b und d)) oder die Raumsonde verlässt den Planeten für immer (Parabel (e) oder Hyperbelast (f)).
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- Applet: Umlaufbahnen
6.6.4 Erste kosmische Geschwindigkeit (Kleinste Kreisbahngeschwindigkeit)
Für eine Kreisbahn eines Satelliten um einen Planeten muss die Gravitationsbeschleunigung gleich der Zentripetalbeschleunigung sein.
\[\begin{equation} \begin{aligned} a_z = {} & g \\ \frac{v^{2}}{r} = {} &{\frac {GM}{r^{2}}} \\ v= {} &{\sqrt {\frac {GM}{r}}} \\ \end{aligned} \tag{6.10} \end{equation}\]
Für die kleinstmögliche Kreisbahn (1. kosmische Geschwindigkeit, engl. first cosmic velocity) muss zusätzlich der Bahnradius größer als der Radius des Planeten sein. Für die Erde ergibt sich eine Geschwindigkeit von rund \(7{,}91\;\mathrm{km/s}\). Da unsere Erde aber eine Atmosphäre besitzt, kann es einen solchen „Baumwipfelsatelliten“ natürlich nicht geben.
6.6.5 Zweite kosmische Geschwindigkeit (Fluchtgeschwindigkeit)
Ist die kinetische Energie größer als die Bindungsenergie einer Sonde, entfernt sie sich dauerhaft von der Erde und kommt nicht mehr zurück.
\[ \begin{aligned} E_\text{kin} > {} &W_{\infty} \\ \frac{m\cdot v^2}{2} > {} &\frac{G\cdot m\cdot M}{r}&&\qquad\Bigr\rvert\cdot \frac{2}{m} \\ v^2 > {} &\frac{2\cdot G\cdot\cancel{m}\cdot M}{\cancel{m}\cdot r}&&\qquad\Bigr\rvert\; \sqrt{(\ldots)}\\ \end{aligned} \]
Und nach dem Wurzelziehen erhalten wir:
\[\begin{equation} v > \sqrt{\frac{2\cdot G\cdot M}{r}} \tag{6.11} \end{equation}\]
Die dafür notwendige Geschwindigkeit wird als 2. kosmische Geschwindigkeit (oder Fluchtgeschwindigkeit, engl. escape velocity, second cosmic velocity) bezeichnet. Die Bahn für diese Grenzgeschwindigkeit entspricht der Parabel in Bild 6.46.
Setzen wir etwa die Werte für unseren Planeten (\(r_\text{Erde}=6.378\cdot 10^{6}\;\mathrm{m}\), \(M_\text{Erde}=5.97\cdot 10^{24}\;\mathrm{kg}\)) in die Formel ein, erhalten wir einen Wert von \(11{,}17\ldots\;\mathrm{km/s}\) für die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde.
6.6.6 Dreikörperproblem
Befinden sich drei oder mehr Körper mit vergleichbarer Masse in einem System (Dreikörperproblem (engl. three-body problem) bzw. Mehrkörperproblem) sind die Bahnen keine Kegelschnittlinien mehr. Es gibt auch keine Formel mehr für die Bahnkurven der Körper und die Entwicklung eines solchen Systems kann nur mit Simulation bestimmt werden (Animation 6.47). Das Verhalten ist im Allgemeinen chaotisch (also sehr stark abhängig von den Anfangsbedingungen).
6.6.7 Kepler-Konstante
Johannes Kepler hat durch Beobachtungen das dritte Keplersche Gesetz entdeckt, aber mithilfe des Gravitationsgesetzes können wir berechnen, von welchen Größen die darin vorkommende Kepler-Konstante (engl. Kepler’s Constant) abhängt.
Wir gehen wieder von einer kreisförmigen Planetenbahn (Radius \(r\)) um einen Stern aus. Für eine Kreisbahn eines Planeten um einen Stern muss die Gravitationsbeschleunigung gleich der Zentripetalbeschleunigung sein.
\[ \begin{aligned} a_z = {} & g \\ \frac{v^{2}}{r} = {} &{\frac {GM}{r^{2}}} \qquad\Bigr\rvert\cdot r\\ v^2= {} &{\frac{GM}{r}} \\ \end{aligned} \]
Für die Umlaufzeit \(T\) des Planeten auf einer kreisförmigen Bahn gilt:
\[ \begin{aligned} v = {} & \frac{2\pi r}{T} \qquad\Bigr\rvert\;(\ldots)^2\\ v^2 = {} & \frac{4\pi^2 r^2}{T^2} \end{aligned} \]
Gleichsetzen der beiden Gleichungen ergibt:
\[ \begin{aligned} \frac{4\pi^2 r^2}{T^2} = {} & \frac{GM}{r} \qquad\Bigr\rvert\cdot \frac{r}{4\pi^2}\\ \frac{r^3}{T^2} = {} & \frac{GM}{4\pi^2} = C\\ \end{aligned} \]
Da \(G\) und \(\pi\) konstant sind, hängt die Kepler-Konstante also nur von der Masse des Zentralsterns ab und muss somit für alle Planeten eines Planetensystems gleich sein.
6.6.8 Flughöhe geostationärer Satelliten
Ein geostationärer Satellit (engl. geosynchronous orbit) befindet sich zu jeder Zeit über demselben Ort auf der Erde (Animation 6.48). Seine Umlaufzeit muss daher \(24\;\text{h}\) betragen.
Gehen wir von der Kepler-Konstante aus, können wir die Gleichung für \(r\) umschreiben:
\[ \begin{aligned} \frac{r^3}{T^2} = {} & \frac{GM_{Erde}}{4\pi^2} &&\Bigr\rvert\cdot T^2\\ r^3 = {} & \frac{GM_{Erde}T^2}{4\pi^2} &&\Bigr\rvert\cdot \sqrt[3]{(...)}\\ r = {} & \sqrt[3]{\frac{GM_{Erde}T^2}{4\pi^2}}\\ \end{aligned} \]
Mit der Umlaufzeit (\(24\;\text{h}=86\,400\;\text{s}\)) und einer Erdmasse von \(5{,}97\cdot 10^{24}\;\text{kg}\) erhältst du einen Bahnradius von rund \(42\,227\;\mathrm{km}\). Für die Flughöhe muss noch der Erdradius am Äquator (\(r_{Erde}=6\,378\;\mathrm{km}\)) abgezogen werden. Die gesuchte Flughöhe ist somit \(35\,849\;\mathrm{km}\).
Aus der Formel kannst du erkennen, dass eine bestimmte Umlaufzeit immer einen bestimmten Bahnradius erfordert. Nach dem ersten Keplerschen Gesetz gilt, dass der Bahnmittelpunkt jeder Satellitenbahn gleich dem Erdmittelpunkt sein muss. Daraus folgt, dass sich alle geostationären Satelliten auf derselben Umlaufbahn um die Erde bewegen müssen. Inaktive Satelliten werden nicht entsorgt, sondern verbleiben in der Umlaufbahn. Dieser Weltraummüll ist zu einem großen Problem für alle Weltraumorganisationen geworden.
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6.6.9 Lagrange-Punkte
Bei einem einzelnen Himmelskörper lassen sich beliebig viele Umlaufbahnen finden, auf denen ein kleiner Satellit diesen antriebslos umkreisen kann.
Bei zwei Himmelskörpern, wie dem System Erde-Sonne, gibt es nur fünf kräftefreie Stellen, an denen ein kleiner Körper (mit vernachlässigbar kleiner Masse) den Massenmittelpunkt beider Himmelskörper antriebslos umkreisen kann. Die Position des Körpers relativ zu den beiden Himmelskörpern bleibt dabei unverändert (Bild 6.49). Diese nach Joseph-Louis Lagrange benannten Lagrange-Punkte (engl. lagrange points) werden üblicherweise mit \(L_1\) bis \(L_5\) bezeichnet.
Alle fünf Lagrange-Punkte erfüllen die Bedingung, dass die Vektorsumme der Gravitationskräfte exakt die für den Orbit um das Baryzentrum notwendige Zentripetalkraft ergibt (Bild 6.50).
Die Lagrange-Punkte sind ausgezeichnete Orte für Satelliten. Es braucht zwar auch in diesen Punkten geringe Bahnkorrekturen zur Aufrechterhaltung der Umlaufbahn, aber diese sind minimal im Verhältnis zu anderen Stellen. Der Punkt \(L_1\) befindet sich zwischen Erde und Sonne und bietet sich für Raumsonden zur Sonnenbeobachtung an. Der Punkt \(L_2\) befindet sich rund 1,5 Millionen Kilometer außerhalb der Erdbahn. Von diesem Punkt aus gesehen, befinden sich Sonne, Erde und Mond stets relativ nahe beieinander. Dadurch reicht dem James-Webb-Weltraumteleskop an diesem Punkt ein einfacher Sonnenschild, um seine empfindlichen Instrumente passiv zu kühlen. Der Punkt \(L_3\) befindet sich jenseits der Sonne und ist von der Erde aus nicht zu sehen. Die Punkte \(L_4\) und \(L_5\) befinden sich jeweils \(60^\circ\) vor und hinter der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne.
Auch alle anderen Planeten haben gemeinsam mit der Sonne Lagrange-Punkte, ebenso wie Doppelstern Systeme und das System Erde-Mond.
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