6.6 Anwendungen des Gravitationsgesetzes
6.6.1 Baryzentrum
Nach der Entdeckung des Gravitationsgesetzes erkannte man, dass sich streng genommen nicht der Mittelpunkt der Sonne (wie im ersten Keplerschen Gesetz (6.2.1) behauptet) im Brennpunkt der Bahnellipse von Planeten befindet, sondern der gemeinsame Schwerpunkt von Planet und Sonne (das sogenannte Baryzentrum; im Bild 6.37 mit einem Plus markiert).
In unserem Sonnensystem ist die Sonne im Verhältnis zu den Planeten aber so massereich, dass Sonnenmittelpunkt und Baryzentrum fast zusammen fallen (Bild 6.38).
Je größer die Masse eines Planeten, desto mehr weicht das Baryzentrum vom Mittelpunkt der Sonne ab. Bei einem Doppelstern-Systeme, wo beide Körper sogar eine vergleichbare Masse haben, befindet sich das Baryzentrum in der Mitte zwischen den beiden Massen. In der Animation 6.39 siehst du das Baryzentrum der beiden Körper wieder als Plus markiert.
6.6.2 Gezeitenkräfte
Der Meeresspiegel unterliegt täglichen Schwankungen, wie du im Bild 6.40 erkennen kannst.

Bild 6.40: Vergleich von Ebbe und Flut in der Bay of Fundy
Ebbe und Flut auf der Erde sind eine Folge der Gezeitenkräfte (engl. tidal forces) von Sonne und Mond. Je näher Massen beisammen sind und je größer ihre Ausdehnung ist, desto größer sind die Unterschiede in der Gravitationskraft an den unterschiedlichen Stellen der Körper (interaktives Bild 6.41).
Die roten Kraftpfeile entsprechen den Kräften, die auf die unterschiedlichen Stellen des Körpers durch die zweite Masse wirken. Ziehst du davon den schwarzen Kraftpfeil (Kraft auf den Mittelpunkt) ab, so erhältst du die blauen Kraftpfeile. Sie zeigen die Kräfte relativ zum Mittelpunkt des Körpers.
Die Gezeitenkräfte haben auf die feste Erde kaum einen Einfluss. Ganz anders als die Wassermassen. Hier bewirken die Gezeitenkräfte auf der Mond zu- und abgewandten Seite ein Anheben des Meeresspiegels (Flut) und normal dazu ein Absenken des Meeresspiegels (Ebbe).
Zusätzlich zum Mond wirken auf die Wassermassen auch Gezeitenkräfte von der Sonne. Stehen Sonne, Erde und Mond in einer Linie, verstärken sich die Gezeitenkräfte von Mond und Sonne (Springtide). Bilden Sonne, Erde und Mond einen rechten Winkel sind die Gezeitenkräfte am kleinsten (Nipptide).
Gezeitenkräfte können sogar so groß werden, dass sie ganze Planeten zerstört (Roche-Grenze).
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6.6.3 Kepler Bahnen
Besteht ein System aus genau zwei Massen (Zweikörperproblem), sind die Bahn-Formen immer Kegelschnittlinien (Keplerbahnen). Die möglichen Bahnen sind in Bild 6.42 dargestellt.
Je nach Anfangsgeschwindigkeit erhältst du für die Raumsonde keine Umlaufbahn (hypothetische Ellipse durch die Erde (a)), stabile Umlaufbahnen (Kreis (c) und Ellipse (b und d)) oder die Raumsonde verlässt den Planeten für immer (Parabel (e) oder Hyperbelast (f)).
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- Applet: Umlaufbahnen
6.6.4 Erste kosmische Geschwindigkeit (Kleinste Kreisbahngeschwindigkeit)
Für eine Kreisbahn eines Satelliten um einen Planeten muss die Gravitationsbeschleunigung (6.4.2) gleich der Zentripetalbeschleunigung (3.7.6) sein.
\[\begin{equation} \begin{aligned} a_z = {} & g \\ \frac{v^{2}}{r} = {} &{\frac {GM}{r^{2}}} \\ v= {} &{\sqrt {\frac {GM}{r}}} \\ \end{aligned} \tag{6.10} \end{equation}\]
Für die kleinstmögliche Kreisbahn (1. kosmische Geschwindigkeit, engl. first cosmic velocity) muss zusätzlich der Bahnradius größer als der Radius des Planeten sein. Für die Erde ergibt sich eine Geschwindigkeit von rund \(7{,}91\;\mathrm{km/s}\). Da unsere Erde aber eine Atmosphäre besitzt, kann es einen solchen „Baumwipfelsatelliten“ natürlich nicht geben.
6.6.5 Zweite kosmische Geschwindigkeit (Fluchtgeschwindigkeit)
Ist die kinetische Energie (5.3.2) größer als die Bindungsenergie (6.5.4) einer Sonde, entfernt sie sich dauerhaft von der Erde und kommt nicht mehr zurück.
\[ \begin{aligned} E_\text{KIN} > {} &W_{\infty} \\ \frac{m\cdot v^2}{2} > {} &\frac{G\cdot m\cdot M}{r}&&\qquad\Bigr\rvert\cdot \frac{2}{m} \\ v^2 > {} &\frac{2\cdot G\cdot\cancel{m}\cdot M}{\cancel{m}\cdot r}&&\qquad\Bigr\rvert\; \sqrt{(\ldots)}\\ \end{aligned} \]
Und nach dem Wurzelziehen erhalten wir:
\[\begin{equation} v > \sqrt{\frac{2\cdot G\cdot M}{r}} \tag{6.11} \end{equation}\]
Die dafür notwendige Geschwindigkeit wird als 2. kosmische Geschwindigkeit (oder Fluchtgeschwindigkeit, engl. escape velocity, second cosmic velocity) bezeichnet. Die Bahn für diese Grenzgeschwindigkeit entspricht der Parabel in Bild 6.42.
Setzen wir beispielsweise die Werte für unseren Planeten (\(r_\text{Erde}=6.378\times 10^{6}\;\mathrm{m}\), \(M_\text{Erde}=5.97\times 10^{24}\;\mathrm{kg}\)) in die Formel ein, erhalten wir einen Wert von \(11{,}17\ldots\;\mathrm{km/s}\) für die Fluchtgeschwindigkeit von der Erde.
6.6.6 Dreikörperproblem
Befinden sich drei oder mehr Körper mit vergleichbarer Masse in einem System (Dreikörperproblem (engl. three-body problem) bzw. Mehrkörperproblem) sind die Bahnen keine Kegelschnittlinien mehr. Es gibt auch keine Formel mehr für die Bahnkurven der Körper und die Entwicklung eines solchen Systems kann nur mit Simulation bestimmt werden (Animation 6.43). Das Verhalten ist im Allgemeinen chaotisch (also sehr stark abhängig von den Anfangsbedingungen).
6.6.7 Kepler-Konstante
Johannes Kepler hat durch Beobachtungen das dritte Keplersches Gesetz (6.2.4) entdeckt, aber mithilfe des Gravitationsgesetzes (6.3.2) können wir berechnen, von welchen Größen die Kepler-Konstante (engl. Kepler’s Constant) abhängt.
Wir gehen wieder von einer kreisförmigen Planetenbahn (Radius \(r\)) um einen Stern aus. Für eine Kreisbahn eines Planeten um einen Stern muss die Gravitationsbeschleunigung (6.4.2) gleich der Zentripetalbeschleunigung (3.7.6) sein.
\[ \begin{aligned} a_z = {} & g \\ \frac{v^{2}}{r} = {} &{\frac {GM}{r^{2}}} \qquad\Bigr\rvert\cdot r\\ v^2= {} &{\frac{GM}{r}} \\ \end{aligned} \]
Für die Umlaufzeit \(T\) des Planeten auf einer kreisförmigen Bahn (3.7.5) gilt:
\[ \begin{aligned} v = {} & \frac{2\pi r}{T} \qquad\Bigr\rvert\;(\ldots)^2\\ v^2 = {} & \frac{4\pi^2 r^2}{T^2} \end{aligned} \]
Gleichsetzen der beiden Gleichungen ergibt:
\[ \begin{aligned} \frac{4\pi^2 r^2}{T^2} = {} & \frac{GM}{r} \qquad\Bigr\rvert\cdot \frac{r}{4\pi^2}\\ \frac{r^3}{T^2} = {} & \frac{GM}{4\pi^2} = C\\ \end{aligned} \]
Da \(G\) und \(\pi\) konstant sind, hängt die Kepler-Konstante also nur von der Masse des Zentralsterns ab und muss somit für alle Planeten eines Planetensystems gleich sein.
6.6.8 Flughöhe geostationärer Satelliten
Ein geostationärer Satellit (engl. geosynchronous orbit) befindet sich zu jeder Zeit über demselben Ort auf der Erde (Animation 6.44). Seine Umlaufzeit muss daher \(24\;\text{h}\) betragen.
Gehen wir von der Kepler-Konstante (6.6.7) aus, können wir die Gleichung für \(r\) umschreiben:
\[ \begin{aligned} \frac{r^3}{T^2} = {} & \frac{GM_{Erde}}{4\pi^2} &&\Bigr\rvert\cdot T^2\\ r^3 = {} & \frac{GM_{Erde}T^2}{4\pi^2} &&\Bigr\rvert\cdot \sqrt[3]{(...)}\\ r = {} & \sqrt[3]{\frac{GM_{Erde}T^2}{4\pi^2}}\\ \end{aligned} \]
Mit der Umlaufzeit (\(24\;\text{h}=86\,400\;\text{s}\)) und einer Erdmasse von \(5{,}97\cdot 10^{24}\;\text{kg}\) erhältst du einen Bahnradius von rund \(42\,227\;\mathrm{km}\). Für die Flughöhe muss noch der Erdradius am Äquator (\(r_{Erde}=6\,378\;\mathrm{km}\)) abgezogen werden. Die gesuchte Flughöhe ist somit \(35\,849\;\mathrm{km}\).
Aus der Formel kannst du erkennen, dass eine bestimmte Umlaufzeit immer einen bestimmten Bahnradius erfordert. Nach dem ersten Keplerschen Gesetz (6.2.1) gilt, dass der Bahnmittelpunkt jeder Satellitenbahn gleich dem Erdmittelpunkt sein muss. Daraus folgt, dass sich alle geostationären Satelliten auf derselben Umlaufbahn um die Erde bewegen müssen. Inaktive Satelliten werden nicht entsorgt, sondern verbleiben in der Umlaufbahn. Dieser Weltraummüll ist zu einem großen Problem für alle Weltraumorganisationen geworden.
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