16.10 Kosmologie
In Bild 16.104 siehst du einen Ausschnitt unseres Sternenhimmels etwa von der Größe des Vollmondes. Auf dieser Aufnahme des Weltraumteleskops Euclid von der ESA sind rund 1000 Galaxien im Sternbild Perseus zu sehen, und mehr als 100.000 weiter entfernte Galaxien im Hintergrund, die jeweils bis zu Hunderte Milliarden Sterne enthalten! Das Licht einiger dieser Galaxien hat 10 Milliarden Jahre gebraucht, um uns zu erreichen! Astronomen haben berechnet, dass sich Galaxienhaufen wie der im Sternbild Perseus nur dann bilden können, wenn es im Universum dunkle Materie gibt.
Dieses Kapitel ist der Kosmologie (engl. cosmology) gewidmet. Der Name leitet sich von den altgriechischen Wörtern κόσμος (cosmos) für „Universum“ und λογία (logia) für „Lehre von“ ab. Die Kosmologie ist der Zweig der Physik, der sich mit der Entstehung und der Entwicklung des Universums beschäftigt. Außerdem wirst du in diesem Kapitel erfahren, was die Begriffe „dunkle Materie“ und „dunkle Energie“ eigentlich bedeuten.
16.10.1 Urknall
Das Licht, das uns von anderen Galaxien erreicht, zeigt eine Rotverschiebung im Spektrum. Sie ist umso größer, je weiter eine Galaxie von uns entfernt ist. Diese Rotverschiebung ist kein Ausdruck ihrer Bewegung, sondern lässt sich durch die Ausdehnung des Raumes selbst (daher seiner Maßstäbe) deuten (Bild 16.105).
Wenn wir diesen Ausdehnungsprozess zurückverfolgen, gelangen wir zu einem Zustand, an dem unser gesamtes Universum in einem Punkt (Singularität) vereint war. Demzufolge ist unser Universum aus einer gewaltigen Explosion entstanden. Dieser Anfang des Universums wird Urknall (engl. big bang) genannt und soll Schätzungen zufolge vor rund 13,8 Milliarden Jahren stattgefunden haben (Bild 16.106).
Der Urknall ist der Beginn von Materie, Raum und Zeit. Unmittelbar nach dem Urknall waren die Dichte und die Temperaturen so hoch, dass sich weder Atomkerne noch Atome bilden konnten – das Universum war eine Art kosmischer Einheitsbrei.
Mit der Expansion des Universums nimmt auch seine Temperatur ab. Ein paar Minuten nach dem Urknall konnten sich bereits Protonen und Neutronen zu den ersten leichten Atomkernen wie Deuterium und Helium-Kerne binden.
Es sollte dann noch etwa 380.000 Jahre dauern, bis das Universum so weit abgekühlt war, dass sich Elektronen an Kerne binden und erste Atome entstehen konnten. Jetzt erst wurde das Universum für elektromagnetische Strahlung durchlässig – das Universum wurde „durchsichtig“. Dieser Übergang ist heute noch als kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung messbar. Allmählich entwickelten sich immer größere Strukturen bis hin zu den Galaxien, die wir heute beobachten können.
Kosmologen sind überzeugt, dass die Ausdehnung des Universums nicht gleichmäßig war. Wie in Bild 16.106 angedeutet, gab es zunächst einen enormen „Wachstumsschub“ gefolgt von einem Zeitraum mit viel langsamerer Ausdehnung. Daher ist es schwierig anzugeben, wie groß unser Universum momentan ist, obwohl wir sein Alter ziemlich genau kennen.
Trotz vieler Hinweise darauf, dass unser Universum aus einem Urknall hervorging, konnten sich selbst viele kluge Köpfe, darunter auch Albert Einstein, nicht mit dieser Vorstellung anfreunden. Ist der Urknall tatsächlich der Beginn der Zeit, dann gibt es kein „davor“. Ohne Zeit gibt es keine Kausalität und damit gäbe es keine Ursache für den Urknall. Oder: Kann die gesamte Masse und Energie des Universums wirklich in einem einzigen Punkt konzentriert gewesen sein (Singularität)?
16.10.2 Kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung
Im Jahr 1965 wurde von Arno Penzias und Robert Wilson mithilfe eines Radioteleskops erstmals eine fast über den gesamten Himmel gleichbleibende Strahlung im Mikrowellenbereich beobachtet. Diese kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung (engl. cosmic microwave background, CMB) füllt den gesamten Raum zwischen den Sternen und Galaxien aus (Bild 16.107). Sie wurde von Kosmologen vorhergesagt und gilt als eine der wichtigsten Hinweise darauf, dass unser Universum durch einen Urknall entstanden ist.
Diese Hintergrundstrahlung lässt sich als die abgestrahlte Bindungsenergie bei der Entstehung der ersten Atome rund 380.000 Jahre nach dem Urknall interpretieren. Wird die Rotverschiebung berücksichtigt, die durch die Ausdehnung des Universums seit dieser Zeit entstanden ist, sollte diese Strahlung heute als langwellige Mikrowellenstrahlung vorhanden sein und der Strahlung eines schwarzen Körpers von wenigen Kelvin entsprechen. Und tatsächlich: Die gemessene kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung entspricht einem schwarzen Strahler bei einer Temperatur von \(2{,}725\;\mathrm{K}\).
Unglaublich: Wir können heute noch Licht messen, das vor fast 14 Milliarden Jahren entstanden ist!
Dir sind sicher die hellen und dunklen Flecken in Bild 16.107 aufgefallen. Sie entsprechen Temperaturunterschieden von nur \(\pm200\;\mathrm{\mu K}\) (Mikrokelvin). Sie sind ein Hinweis auf winzige Quantenfluktuationen im frühen Universum. Ohne diese superkleinen Inhomogenitäten hätten sich später keine Strukturen wie Galaxien, Sterne oder Planeten entwickeln können!
16.10.3 Goldlöckchen-Prinzip des Universums
Mit dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik lassen sich viele Zusammenhänge zwischen den beobachtbaren Teilchen erklären. Aus diesem Modell lässt sich allerdings nicht ableiten, warum etwa das Elektron die Masse hat, die wir messen können. Simulationen zeigen aber eindeutig: Würde dieser Wert nur geringfügig größer oder kleiner sein, könnte es keine stabilen Atome geben, keine chemischen Verbindungen, keine Planeten und auch kein Leben.
Jetzt ist vielleicht die Masse des Elektrons ein „glücklicher Zufall“. Dasselbe gilt allerdings für alle Naturkonstanten – sie alle sind exakt so gewählt, dass ein stabiles Universum und damit auch Leben, wie wir es kennen, möglich ist. Es fällt schwer bei all diesen „Zufällen“ nicht an einen Schöpfer zu glauben, der dafür gesorgt hat, dass alle Naturkonstanten gerade die richtigen Größen haben.
Diese Feinabstimmung der Naturkonstanten wird auch als das Goldlöckchen-Prinzip des Universums (engl. goldilocks principle) bezeichnet. Der Name geht auf eine Version der Geschichte von „Goldlöckchen und die drei Bären“ zurück. Darin kostet ein kleines Mädchen namens Goldlöckchen Brei aus drei verschiedenen Schüsseln und wählt den Brei, der weder zu heiß noch zu kalt ist, sondern genau die richtige Temperatur hat.
16.10.4 Multiversum
Nehmen wir an, dass beim Urknall nicht nur unser eigenes, sondern eine Vielzahl von Universen mit jeweils unterschiedlichen physikalischen Gesetzen und mit unterschiedlich großen Naturkonstanten entstanden sind. Die meisten dieser Paralleluniversen wären öde und leer, weil dort die Bedingungen so ungünstig sind, dass keine stabilen Strukturen entstehen können. Bei einigen wenigen sind die Werte aber gerade so, dass sich komplexe Strukturen und auch Leben entwickeln können. Und nur in diesen Universen kann es natürlich auch Lebewesen geben, die sich über das Goldlöckchen-Prinzip des Universums Gedanken machen (Anthropisches Prinzip, engl. anthropic principle). Auf diese Weise wäre unser Universum eigentlich nichts Besonderes und wir würden uns von Paralleluniversen nur durch unsere etwas andere Struktur unterscheiden. Die Gesamtheit aller Paralleluniversen wird als Multiversum (engl. multiverse) bezeichnet.
Da es zurzeit weder theoretisch noch praktisch eine Möglichkeit gibt, zu parallelen Universen Verbindung aufzunehmen, wird sich die Mehrweltentheorie vielleicht nie bestätigen oder widerlegen lassen. Die Idee bietet aber die Möglichkeit für spannende Geschichten, wie die Menge an Büchern und Filmen zeigt, die das Thema „Parallelwelten“ aufgreifen (Bild 16.108).
16.10.5 Dunkle Materie
Wenn wir den Himmel betrachten, können wir nur „helle“ Objekte beobachten. Neben Planeten in unserer unmittelbaren Umgebung, die Licht reflektieren, sind alle anderen Objekte selbst leuchtend. Sterne, Gas- und Staubwolken, aber auch schwarze Löcher, senden ständig elektromagnetische Strahlung (darunter auch sichtbares Licht) aus.
Die Gravitation, die durch diese für uns messbare Materie verursacht wird, reicht allerdings nicht aus, um etwa die Rotationsgeschwindigkeit unserer Milchstraße oder das durch den Gravitationslinseneffekt entstandene Bild des Galaxienhaufens CL0024+17 in Bild 16.109 zu erklären.
Daher nehmen Astronomen an, dass es eine große Menge an Materie im Kosmos gibt, die aber so fein verteilt ist, dass wir sie nicht beobachten können. Diese für uns nicht direkt messbare Materie wird dunkle Materie (engl. dark matter) genannt. Es gibt Schätzungen, dass der Anteil der dunklen Materie rund \(84{,}5\,\%\) im Kosmos ist – damit wären nur \(15{,}5\,\%\) der Materie durch ihre Strahlung für uns „sichtbar“.
16.10.6 Dunkle Energie
Die Messungen der Astronomen zeigen, dass sich die Entfernung der Galaxien von uns beschleunigt vergrößert. Das lässt vermuten, dass sich das gesamte Universum mit zunehmender Geschwindigkeit ausdehnt. Momentan wird die Ursache für die immer schneller werdende Ausdehnung des Universums von Astronomen nicht verstanden. Eine abstoßende Kraft (eine Art Anti-Schwerkraft) im leeren Raum würde das Verhalten erklären können. Diese mögliche Kraft wird als dunkle Energie (engl. dark energy) bezeichnet. Derzeit gibt es aber keine konkrete Idee, worum es sich bei dieser Kraft handeln könnte.
Nach dem Standardmodell der Kosmologie besteht der Masse-Energie-Inhalt des Universums zu \(4{,}9\,\%\) aus beobachtbarer Materie, zu \(26{,}8\,\%\) aus dunkler Materie und zu \(68{,}3\,\%\) aus dunkler Energie (Bild 16.110).
16.10.7 Zukunft des Universums
Die Hubble-Konstante \(H_{0}\) (benannt nach Edwin Hubble) gibt an, wie schnell sich das Universum ausdehnt. Ihr Wert liegt aktuell in der Größenordnung von \(70\;\frac{\mathrm {km/s} }{\mathrm {Mpc} }\) (Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec). Sie gilt zwar für den gesamten Raum im Universum (daher wird sie als Konstante bezeichnet), ändert sich aber mit der Zeit. Wie sich die Ausdehnung in Zukunft entwickelt, hängt im Wesentlichen von der Materiedichte im Universum (anziehende Kräfte) und dem Anteil an dunkler Energie (abstoßende Kräfte) ab. Beides lässt sich jedoch nur grob abschätzen.
Aus diesen Gründen kann der weitere Verlauf des Universums heute noch nicht vorhergesagt werden. Kosmologen halten folgende Szenarien für möglich (Bild 16.111):
Die Hubble-Konstante wird kleiner und später sogar negativ. Beim „großen Kollaps“ (engl. Big Crunch) verlangsamt die Gravitation der im Universum enthaltenen Materie die Ausdehnung, bis sie schließlich stoppt und danach kleiner werden lässt. In diesem Fall würde das Universum auf einen Punkt zusammenschrumpfen und vielleicht mit einem weiteren Urknall erneut beginnen. Diese Version halten Kosmologen aktuell für eher unwahrscheinlich.
Bleibt die Hubble-Konstante positiv, tritt die „große Abkühlung“ (engl. Big Chill oder Big Freeze) ein. Das Universum dehnt sich für alle Zeiten weiter aus und kühlt dabei immer weiter ab. In ferner Zukunft erreicht das Universum dann ein thermodynamisches Gleichgewicht und alle Prozesse kommen zum Erliegen. Diese Version wird auch Wärmetod des Universums genannt und gilt aktuell unter Kosmologen als die wahrscheinlichste.
Wird die Hubble-Konstante immer größer und nähert sich schließlich unendlich, dann tritt das „große Zerreißen“ (engl. Big Rip) ein. Dabei dehnt sich das Universum und damit auch die Raumzeit immer schneller aus, bis es schließlich zu einem Reißen der Raumzeit selbst kommt und die Abstände zwischen allen Teilchen unendlich werden.
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